»Aber«, sagte Yossi, »und was ist mit allem, was wir auf den Versammlungen der Zionsfreunde zu hören bekamen —.«
»Sicher, als wir hier ankamen, da waren wir voller Hoffnungen und Pläne. Aber die verliert man bald in diesem Land. Seht es euch doch an! Alles ist heruntergekommen, nichts gedeiht. Das wenige, was wir haben, stehlen die Beduinen, und was die Beduinen übriglassen, das nehmen die Türken. Wenn ich an eurer Stelle wäre, ginge ich nach Jaffa weiter und führe mit dem nächsten Schiff nach Amerika.«
Was für eine ausgefallene Idee, dachte Yossi.
»Wenn Rothschild, Baron Hirsch und Schumann uns nicht unterstützten, wären wir alle schon längst verhungert.«
Am nächsten Morgen brachen sie von Rösch Pina auf und machten sich auf den Weg durch die Berge nach Safed. Safed war eine der vier heiligen Städte der Juden. Es lag auf einem wunderschönen, kegelförmigen Hügel am Eingang des Hule-Gebietes. Hier, so hoffte Yossi, würde ihre Enttäuschung verschwinden; denn hier lebten schon in der zweiten, dritten und vierten Generation Juden, die sich dem Studium der Kabbala widmeten und nach den Lehren der mittelalterlichen jüdischen Mystik lebten.
Doch der Schock von Rösch Pina wiederholte sich in Safed. Sie fanden einige hundert betagter Juden vor, die mit dem Studium der Schriften beschäftigt waren und von den Almosen ihrer Glaubensbrüder in aller Welt lebten. Sie interessierten sich nicht dafür, das Haus Israel neu zu erbauen — sie hatten keinen anderen Wunsch, als in Ruhe über den Büchern zu hocken.
Die Brüder Rabinski brachen auch von Safed am nächsten Morgen wieder auf und bestiegen den in der Nähe gelegenen Berg Kanaan, um sich umzusehen und zu orientieren. Die Aussicht, die sich von hier oben bot, war wunderbar. Wenn sie zurücksahen, sahen sie Safed auf dem kegelförmigen Hügel liegen und dahinter den See Genezareth. Im Norden lagen die schwingenden Hügel des Hule-Gebietes, von wo sie hergekommen waren. Yossi sah mit Vorliebe auf das Land, das sein Fuß zuerst betreten hatte. Und von neuem tat er das Gelübde, daß dieses Land eines Tages ihm gehören sollte. Jakob vermochte seine Verbitterung nicht mehr zu verbergen. »Unser ganzes Leben lang, in allen unseren Gebeten«, sagte er. »Und nun sieh dir das an, Yossi.«
Yossi legte dem Bruder die Hand auf die Schulter. »Sieh doch nur, wie schön es von hier oben aus erscheint«, sagte er. »Höre, Jakob, wir werden erreichen, daß das Land eines Tages unten im Tal genauso schön aussieht wie hier vom Gipfel aus.«
»Ich weiß nicht, was ich überhaupt noch glauben soll«, sagte Jakob mit leiser Stimme. »Da sind wir nun gewandert, Winter um Winter durch die grimmige Kälte — und jahrelang durch die Glut des Sommers.«
»Sei nicht mehr traurig«, sagte Yossi. »Morgen machen wir uns auf den Weg nach Jerusalem.«
Jerusalem! Beim Klang dieses magischen Wortes faßte auch Jakob wieder neuen Mut.
Am nächsten Morgen stiegen sie vom Berg Kanaan herab, wanderten das Südufer des Sees Genezareth entlang und hinein in das Ginossar-Tal, vorbei an Arbel und dem Schlachtfeld, auf dem Saladin einst die Kreuzritter vernichtend geschlagen hatte.
Doch während sie weiter und weiter wanderten, wurde auch Yossi immer niedergeschlagener. Ihr Gelobtes Land war nicht ein Land, in dem Milch und Honig floß, sondern ein Land faulender Sümpfe, verwitterter Hügel, steiniger Felder und unfruchtbarer Erde — unfruchtbar, weil Araber und Türken seit tausend Jahren nichts für diese Erde getan hatten.
Nach einiger Zeit kamen sie zu dem Berge Tabor, in der Mitte von Galiläa, und sie bestiegen diesen Berg, der eine so bedeutende Rolle in der Geschichte ihres Volkes gespielt hatte. Denn hier oben hatten Deborah, die Jeanne d'Arc der Juden, und ihr General Barak mit ihren Truppen im Hinterhalt gelegen, um dann hervorzubrechen und den eindringenden Feind zu vernichten.
Vom Gipfel des Berges Tabor aus hatten sie einen viele Meilen weiten Rundblick. Was sie aber sahen, war das trostlose Bild eines unfruchtbaren, sterbenden Landes.
Und weiter zogen sie ihres Weges mit schwerem Herzen. Doch als sie zu den Hügeln von Judäa kamen, ergriff sie von neuem die Begeisterung! Jeder Stein erzählte hier von der Geschichte ihres Volkes. Höher und höher stiegen sie die Hügel hinauf, bis sie schließlich oben auf dem Kamm angelangt waren — und Yossi und Jakob sahen die Stadt Davids!
Jerusalem! Traum ihrer Träume! All die Jahre der Entbehrung, der Bitterkeit und des Leidens wurden unwesentlich in diesem Augenblick.
Sie betraten die alte, ummauerte Stadt durch das Damaskus-Tor, gingen durch schmale Straßen und Bazare zu der mächtigen Hurva-Synagoge. Und von der Synagoge aus gingen sie zu der Mauer des alten Tempels, der einzigen, die stehengeblieben war. Diese Mauer war die heiligste Stätte in der ganzen jüdischen Welt.
Doch als sie dann bei den Juden von Jerusalem vorsprachen und um Obdach baten, vergingen ihnen alle Illusionen. Diese Juden hier waren Chassidim, übertrieben strenggläubige Fanatiker, die die Gesetzes-Vorschriften so streng interpretierten, daß sie glaubten, man könne ihnen nur dann gerecht werden, wenn man sich völlig von der zivilisierten Welt absonderte. Schon im russischen Ghetto hatten sich diese Juden von den anderen isoliert.
Zum erstenmal, seit sie Schitomir verlassen hatten, wurde Yossi und Jakob in einem jüdischen Heim die Gastfreundschaft verweigert. Die Juden von Jerusalem hatten für die Biluim nichts übrig, und die Zionsfreunde standen bei ihnen in Verruf wegen ihrer Ideen, die gegen das göttliche Gebot verstießen.
Und so mußten die beiden Brüder erleben, daß man sie im Lande ihrer Väter als Eindringlinge behandelte. Bekümmert machten sie sich von Jerusalem erneut auf den Weg, stiegen die Hügel von Judäa hinunter und lenkten ihre Schritte nach der Hafenstadt Jaffa.
Diese uralte Stadt, die seit den Zeiten der Phönizier ununterbrochen als Hafen gedient hatte, bot das gleiche Bild wie Beirut, Aleppo oder Tripolis: enge Straßen, Schmutz, Verwahrlosung und Verfall. Immerhin gab es hier in der Nähe einige jüdische Ansiedlungen: Rischon le Zion, Rechovot und Petach Tikwa. In Jaffa selbst gab es ein paar jüdische Geschäfte und außerdem eine Agentur für jüdische Einwanderer. Und hier wurden sie genau über die Situation unterrichtet.
In ganz Palästina, einer Provinz des ottomanischen Reiches, gab es nur fünftausend Juden. Die meisten davon lebten der Vergangenheit zugewandt, beschäftigt mit dem Studium der Schriften und mit dem Gebet, in den vier heiligen Städten: Safed, Jerusalem, Hebron und Tiberias. Die zehn oder zwölf landwirtschaftlichen Siedlungen, die von jüdischen Einwanderern ins Leben gerufen worden waren, befanden sich alle in arger Bedrängnis. Sie wurden notdürftig am Leben erhalten durch die Spenden reicher europäischer Juden, der Barone Hirsch und Rothschild und des Schweizer Multimillionärs Schumann. Der anfängliche Idealismus der Biluim hatte sich weitgehend verflüchtigt. Es war ein Unterschied, ob man in einem Keller im russischen Ghetto von der Wiedererrichtung des Hauses Israel sprach, oder ob man der rauhen Wirklichkeit in Palästina gegenüberstand. Die Biluim hatten keine Ahnung von Landwirtschaft. Ihre Gönner in Europa schickten ihnen Fachleute, die sie beraten sollten; doch man verwendete billige arabische Arbeitskräfte und beschränkte sich auf die Erzeugung von zwei bis drei landwirtschaftlichen Produkten für den Export: Oliven, Wein und Zitrusfrüchte. Man hatte keinerlei Versuch unternommen, die Arbeit selbst in die Hand zu nehmen oder die Landwirtschaft rentabel zu machen. Die Juden waren praktisch zu Aufsehern geworden.