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Sowohl die Araber als auch die Herren im Lande, die Türken, bestahlen die Juden, wo sie nur konnten. Von den Erträgen wurden enorm hohe Steuern erhoben, und es gab einschränkende Verordnungen aller Art. Die Räuberbanden der Beduinen betrachteten die Juden als »Kinder des Todes«, weil sie es ablehnten, sich zur Wehr zu setzen.

Immerhin gab es in und um Jaffa einige hundert junge Juden, die ähnliche Absichten hatten wie die Brüder Rabinski. Sie hielten die Idee der Biluim-Bewegung lebendig. Sie diskutierten Abend für Abend in den arabischen Kaffeehäusern. Der Versuch, dieses heruntergewirtschaftete Land wieder fruchtbar zu machen, schien eine fast unmögliche Aufgabe; und doch war es zu schaffen, wenn man nur genügend Juden hatte, die bereit waren, zuzupacken und notfalls auch zu kämpfen. Für Yossi war es eine ausgemachte Sache, daß früher oder später mehr und mehr Juden nach Palästina kommen würden, da die Pogrome in Rußland zwangsläufig immer häufiger und schlimmer werden mußten und die Unruhe unter allen russischen Juden zunahm. Alle waren sich darüber klar, daß irgend etwas fehlte, was nicht im Talmud, nicht in der Thora und auch nicht im Midrasch stand. Die meisten der jungen Leute waren wie Jakob und Yossi aus Rußland geflohen, um der Not und dem Elend zu entgehen, um nicht im russischen Heer dienen zu müssen, oder auf Grund irgendwelcher idealistischer Hoffnungen. Von den in Palästina ansässigen Juden wurden sie als »Außenseiter« behandelt. Außerdem waren sie staaten- und heimatlos.

Es dauerte ein Jahr, bis auf einen Brief nach Schitomir Antwort von Rabbi Lipzin kam. Er schrieb ihnen, daß ihre Mutter vor Kummer gestorben sei.

In den nächsten vier bis fünf Jahren wuchsen Jakob und Yossi zu Männern heran. Sie arbeiteten bald hier und bald da, im Hafen von Jaffa und auf den Feldern der jüdischen Ansiedlungen, manchmal als Arbeiter und manchmal als Aufseher.

Sie schlugen sich durch und nahmen jede Arbeit an, die sich bot. Allmählich verloren sie mehr und mehr den Kontakt mit der tiefen Religiosität, die die beherrschende Kraft des Lebens im Ghetto gewesen war. Nur zu den hohen Festtagen begaben sie sich nach Jerusalem. Und nur am Versöhnungstag, Yom Kippur, hielten sie innere Einkehr — ebenso am Rösch Haschana, dem Neujahrstag. Jakob und Yossi Rabinski wurden typische Vertreter einer neuen Art von Juden. Sie waren jung und stark. Sie waren freie Männer, die eine Freiheit schätzten, die es im Ghetto nie gegeben hatte. Und doch fehlte ihnen etwas. Sie verlangten nach einem festen Ziel, und sie wünschten sich Kontakt mit den Juden in Europa.

So kamen und gingen die Jahre 1891, 1892 und 1893. Doch während Jakob und Yossi scheinbar ziellos in Palästina lebten, ereignete sich an einer anderen Stelle der Welt etwas, was ihr Schicksal und das Schicksal jedes Juden für alle Zeit beeinflussen sollte.

VI.

In Frankreich wie fast überall in Westeuropa hatten es die Juden besser als in Osteuropa. Die Französische Revolution hatte auch für die Juden eine Wende gebracht. Frankreich war das erste europäische Land gewesen, das den Juden alle bürgerlichen Rechte zuerkannt hatte.

Doch der Judenhaß ist eine unheilbare Seuche. Der Erreger dieser Seuche mag unter bestimmten demokratischen Bedingungen nicht sonderlich virulent werden. Gelegentlich sieht es sogar so aus, als sei der Erreger völlig verschwunden; doch selbst im besten Klima stirbt er niemals gänzlich aus.

In Frankreich lebte ein junger aktiver Hauptmann der Armee. Er stammte aus guter und begüterter Familie. Im Jahre 1894 wurde er vor ein Kriegsgericht gestellt, weil er angeblich militärische Geheimnisse an die Deutschen verraten haben sollte. Der Prozeß, den man ihm machte, bewegte die ganze Welt und erschütterte das Ansehen der französischen Rechtsprechung auf das schwerste. Er wurde des Hochverrats für schuldig befunden und zu lebenslänglicher Verbannung auf die Teufelsinsel verurteilt.

Er hieß Alfred Dreyfuß.

In dem strengen Winter des Jahres 1894 stand der in Ungnade gefallene Alfred Dreyfuß auf einem Hof, wo man ihm öffentlich die Epauletten herunterriß, ihm ins Gesicht schlug und seinen Degen zerbrach. Unter gedämpftem Trommelklang wurde er zum Verräter an Frankreich erklärt. Als man ihn abführte, rief er laut: »Ich bin unschuldig! Vive la France!«

Alfred Dreyfuß war Jude. Die schleichende Seuche des Antisemitismus brach erneut in Frankreich aus. Aufgebrachte Menschenmengen liefen durch die Straßen von Paris und schrien den jahrhundertealten Ruf: »Tod den Juden!«

Unter den Menschen, die auf jenem Hof in Paris Zeuge wurden, wie man Dreyfuß öffentlich ächtete, befand sich ein Mann, der den Ruf: »Ich bin unschuldig!« nicht vergessen konnte, selbst dann nicht, als Dreyfuß später rehabilitiert wurde. Er konnte noch weniger vergessen, wie der Mob von Paris geschrien hatte: »Tod den Juden!« Der Mann hieß Theodor Herzl. Herzl war gleichfalls Jude, in Ungarn geboren, doch in Wien aufgewachsen. Er war kein orthodoxer Jude und in den heiligen Büchern nicht sonderlich beschlagen. Er und seine Familienangehörigen waren überzeugte Anhänger der damals vorherrschenden Assimilationstheorie.

Herzl war ein brillanter Essayist. Doch seine innere Unruhe trieb ihn von Ort zu Ort. Glücklicherweise war die Familie in der Lage, dieses unstete Wanderleben ausreichend zu finanzieren.

So kam Herzl auch nach Paris, und hier wurde er schließlich Pariser Korrespondent der einflußreichen Wiener Zeitung Neue Freie Presse. Er war glücklich. Man lebte gut in Paris. Seine Arbeit als Korrespondent machte ihm Freude, und die Atmosphäre dieser Stadt begünstigte wunderbar jede Form des geistigen Austausches. Was aber hatte ihn wirklich nach Paris gebracht? Welche unsichtbare Hand hatte ihn an jenem Wintertag auf diesen Hof geführt? Warum gerade ihn, Herzl? Weder in seiner Lebensform noch in seiner Denkweise war er in erster Linie Jude. Und doch, als er hörte, wie der Mob draußen auf der Straße schrie: »Tod den Juden!«, da änderte sich sein Leben und das Leben eines jeden Juden für immer.

Theodor Herzl begann nachzudenken. Er erkannte, daß der Antisemitismus ein unausrottbares Übel war. Solange es Juden gab, würde es Menschen geben, die diese Juden haßten. In seiner tiefen Sorge fragte sich Herzl, wie dieses Problem zu lösen war, und er kam auf seine Frage zu einer Antwort — zu der gleichen Antwort, zu der vor ihm eine Million Juden in hundert verschiedenen Ländern gekommen waren, zu der Lösung, von der Leo Pinsker in seiner Schrift über die Auto-Emanzipation gesprochen hatte. Herzl gelangte zu der Überzeugung: Nur wenn sich die Juden wieder zu einer Nation zusammenschlossen, bestand die Möglichkeit, daß die Juden aller Länder eines Tages als freie Menschen leben konnten. Das Buch, in dem er seine Gedanken niederlegte, hieß: »Der Judenstaat.« Herzl, der nun plötzlich eine Mission hatte, machte sich fieberhaft und ohne Schonung seiner Person ans Werk, Unterstützung für seine Idee zu gewinnen. Er suchte die reichen Philanthropen auf, welche die jüdischen Kolonien in Palästina unterstützten. Doch diese Männer bezeichneten die Idee eines jüdischen Staates als Unfug. Wohltätigkeit, bitte sehr — als Juden spendeten sie für die Juden, die arm waren — aber von der Wiedererrichtung einer Nation zu reden, erschien ihnen als Hirngespinst.

Doch die Idee wuchs und verbreitete sich über die ganze Welt. Herzls Idee war weder neu noch einzigartig, doch sein dynamischer Wille drängte auf ihre Verwirklichung.

Im Jahre 1897 fand in Basel ein Kongreß führender Juden aus aller Welt statt. Es war in der Tat ein Parlament des Weltjudentums. So etwas hatte es seit der Zerstörung des Zweiten Tempels nicht mehr gegeben.

Die neue Bewegung gab sich den Namen Zionismus, und der Baseler Kongreß gab die historische Erklärung ab:

DER ZIONISMUS ERSTREBT FÜR DAS JÜDISCHE VOLK DIE SCHAFFUNG    EINER    ÖFFENTLICH-RECHTLICH

GESICHERTEN HEIMSTÄTTE IN PALÄSTINA.

In seinem Tagebuch schrieb Theodor Herzl damals: »Ich habe in Basel einen jüdischen Staat gegründet. Wenn ich das heute laut sagte, würde mich die ganze Welt auslachen. Vielleicht schon in fünf, bestimmt aber in fünfzig Jahren wird aller Welt klar sein, daß ich recht hatte.«