Ein Jahr lang befehligte Yossi seine Wachmannschaft mit solcher Klugheit, daß es im ganzen Gebiet fast gar keine Schwierigkeiten gab. Es war nie nötig, von der Schußwaffe Gebrauch zu machen. Gab es Ärger, ging er zu den Arabern, um mit ihnen freundlich zu verhandeln und sie zu warnen. Passierte dann erneut etwas, gebrauchte er seinen Ochsenziemer. Yossi Rabinskis Ochsenziemer wurde mit der Zeit im nördlichen Teil von Galiläa ebenso bekannt und berühmt wie sein roter Bart. Die Araber nannten ihn den »Blitz«.
Für Jakob war das alles viel zu langweilig. Es verlangte ihn nach Tatkraft. Nachdem er sechs Monate beim Haschomer gewesen war, machte er auch dort wieder Schluß und begab sich auf die Suche, in der Hoffnung, irgend etwas zu finden, was die innere Leere ausfüllen könnte, die er sein ganzes Leben lang empfunden hatte.
Yossi war als Wächter weder glücklich noch unglücklich. Diese Tätigkeit machte ihm mehr Spaß, als Land aufzukaufen. Außerdem wurde dadurch demonstriert, daß die Juden in der Lage und entschlossen waren, sich zur Wehr zu setzen, und nicht mehr »Kinder des Todes« zu sein. Er freute sich jedesmal, wenn ihn seine dienstliche Tour nach Norden führte. Dann konnte er seinen Freund Kammal besuchen und anschließend auf seinen Berg hinaufreiten, um seinen Traum zu nähren.
Insgeheim freute er sich besonders auf den Augenblick, wenn er nach Rösch Pina hineinritt. Er richtete sich dann jedesmal im Sattel auf, um auf seinem weißen Hengst noch prächtiger zu wirken. Sein Herz schlug rascher, denn er wußte, daß ihm Sara, das dunkeläugige Mädchen aus Oberschlesien, zusah. Doch wenn er den Mund aufmachen oder handeln sollte, dann verließ ihn der Mut. Sara war ratlos. Yossi konnte seine Schüchternheit einfach nicht überwinden. In Saras Heimat wäre der Heiratsvermittler zu Yossis Vater gegangen und hätte alles arrangiert. Hier aber gab es keinen Heiratsvermittler, nicht einmal einen Rabbi.
So verging ein ganzes Jahr. Eines Tages kam Yossi unerwartet nach Rösch Pina geritten. Alles, was er über die Lippen brachte, war, Sara zu fragen, ob sie Lust hätte, mit ihm in das Hule-Tal zu reiten, um sich das Land nördlich der Siedlung anzusehen.
Wie aufregend für Sara! Kein Jude außer Yossi Rabinski wagte sich so weit ins Land hinein! Sie ritten durch Abu Yesha und dann hinauf in die Berge. Auf dem Gipfel eines Berges machten sie halt. »Genau von dieser Stelle aus habe ich Palästina zum erstenmal gesehen«, sagte er leise.
Yossi blickte in das Hule-Tal hinunter. Er brauchte nichts mehr zu sagen. Sara wußte, wie sehr er dieses Stück Land liebte. So standen sie beide lange nebeneinander und sahen stumm hinunter in das Tal. Sara reichte Yossi knapp bis an die Brust.
Das also, dachte sie gerührt, war für Yossi die einzige Möglichkeit, seinem geheimsten Herzenswunsch Ausdruck zu verleihen.
»Yossi Rabinski«, flüsterte sie, »würden Sie mich bitte, bitte heiraten?«
Yossi räusperte sich und stammelte verlegen: »Ja — hm — komisch, daß Sie davon reden. Ich wollte Sie gerade auch so etwas Ähnliches fragen.«
Noch nie hatte es in Palästina eine Hochzeit gegeben wie die von Yossi und Sara. Sie dauerte fast eine Woche, und die Gäste kamen aus ganz Galiläa und sogar aus Jaffa, obwohl es bis nach Safed eine Reise von zwei Tagen war. Es kamen die Männer vom Haschomer, und Jakob kam und die Siedler von Rösch Pina, es kamen türkische Gäste, und Kammal erschien, und sogar Suleiman. Als die letzten Gäste gegangen waren, ging Yossi mit seiner jungen Frau nach Jaffa, wo es für ihn viel Arbeit bei der Zionistischen Siedlungsgesellschaft gab. Sein Ruf ließ ihn als den geeigneten Mann erscheinen, die frisch zugewanderten Ansiedler unter seine Fittiche zu nehmen und ihnen bei den mannigfaltigen Schwierigkeiten behilflich zu sein. Er machte einen Vertrag und übernahm einen leitenden Posten bei der Zionistischen Siedlungsgesellschaft.
Im Jahr 1909 wurde Yossi in einer sehr wichtigen Angelegenheit um Rat gefragt. Viele Angehörige der immer größer werdenden jüdischen Gemeinde von Jaffa wünschten bessere Wohnungen, bessere sanitäre und kulturelle Verhältnisse, die die alte arabische Stadt nicht zu bieten hatte. Yossi half, einen Streifen Land nördlich von Jaffa zu erwerben, der größtenteils aus Sand und Orangenhainen bestand.
Auf diesem Boden wurde zum erstenmal seit zweitausend Jahren die erste rein jüdische Stadt erbaut. Man nannte sie: Hügel des Frühlings — Tel Aviv.
IX.
Die bestehenden landwirtschaftlichen Siedlungen hatten schwere Zeiten durchzustehen. Dafür gab es vielerlei Gründe. Zunächst einmal waren die Siedler gleichgültig und lethargisch und besaßen keinerlei Idealismus. Sie bauten nach wie vor Feldfrüchte ausschließlich für den Export an und verwendeten weiterhin die billigeren arabischen Arbeitskräfte. Obwohl jetzt viele Juden nach Palästina kamen, die gern auf dem Land arbeiten wollten, konnten die Gutsbesitzer nur mit Mühe dazu überredet werden, diese Juden als Arbeitskräfte zu verwenden.
Die Gesamtsituation war entmutigend. Es sah in Palästina noch nicht wesentlich besser aus als vor zwanzig Jahren, als die Brüder Rabinski hierher gekommen waren. Der Schwung und der Idealismus, den die jungen Leute der zweiten Aliyah-Welle ins Land gebracht hatten, waren versandet. Ähnlich wie Jakob und Yossi wanderten auch die neuen Einwanderer von Ort zu Ort und von Stellung zu Stellung, ohne festes Ziel und ohne sich niederzulassen. Je mehr Land die Zionistische Siedlungsgesellschaft erwarb, desto deutlicher wurde es, daß man das ganze Siedlungsproblem völlig anders anpacken mußte. Yossi und viele seiner Freunde waren schon lange zu der Ansicht gelangt, daß die Landbestellung für den einzelnen schier unmöglich war. Die Unsicherheit der Verhältnisse, die Unerfahrenheit der Juden in landwirtschaftlichen Fragen und die völlige Verkommenheit des Bodens waren die Hauptgründe.
Was sich Yossi für das neuerworbene Land wünschte, waren Siedlungen, deren Bewohner den Boden selbst bearbeiteten, die eine Gemischtwirtschaft führten, um sich selbst zu ernähren, und die zusammenhielten, wenn es galt, sich zu verteidigen. Um das zu verwirklichen, mußte zunächst einmal das ganze angekaufte Land als jüdischer Grund und Boden, der allen Juden gehörte, nominell in der Hand der Zionistischen Siedlungsgesellschaft verbleiben. Und die Siedler mußten den Boden selbst bearbeiten und durften keine anderen Arbeitskräfte dingen, weder jüdische noch arabische. Der nächste dramatische Schritt wurde getan, als sich Juden der zweiten Aliyah-WeIle dazu verpflichteten, ausschließlich für die Erschließung des Landes zu arbeiten. Sie gelobten, das Land zu einer Heimstätte zu machen, ohne an privaten Gewinn oder persönlichen Vorteil zu denken. Durch diese Verpflichtungen kamen sie der späteren Idee des landwirtschaftlichen Kollektivs schon sehr nahe. Die genossenschaftliche Form der Landbestellung entsprang nicht so sehr einem sozialen oder politischen Idealismus als vielmehr der Notwendigkeit des Existenzkampfes; es gab keine andere Lösung. Damit waren die Voraussetzungen für ein dramatisches Experiment gegeben, das im Jahr 1909 gestartet wurde. Die Zionistische Siedlungsgesellschaft erwarb unterhalb von Tiberias, an der Stelle, wo der Jordan in den See Genezareth mündet, viertausend Dunam Land, das zum größten Teil aus Moor oder Sumpf bestand. Die Gesellschaft rüstete zwanzig junge Männer und Frauen mit Geld und Lebensmitteln für ein Jahr aus. Sie sollten das Land urbar machen. Yossi begleitete sie, als sie sich aufmachten und am Rande des Sumpfes ihre Zelte aufschlugen. Sie gaben ihrer Neusiedlung den Namen nach den wilden Rosen, die am Rande des Tiberias-Sees wuchsen: Schoschana. Man errichtete drei Schuppen aus ungehobelten Brettern. Der eine diente als gemeinsamer Speiseraum und Versammlungssaal, der zweite als Scheune und Geräteschuppen, der dritte als Unterkunft für die sechzehn Männer und die vier Frauen.