Im ersten Winter wurden die Schuppen ein dutzendmal durch Wind und Wasser umgerissen. Straßen und Wege waren so morastig, daß die Neusiedler für lange Zeit von der übrigen Welt völlig abgeschnitten waren. Schließlich waren sie gezwungen, in ein nahegelegenes Araberdorf auszuweichen und dort den Frühling abzuwarten.
Yossi kehrte im Frühling nach Schoschana zurück, als es dort ernstlich an die Arbeit ging. Die Sümpfe und Moore mußten Meter für Meter zurückgedrängt werden. Man pflanzte Hunderte von australischen Eukalyptusbäumen an, die das Wasser aufsaugen sollten. Entwässerungsgräben wurden gezogen. Alles mußte mit der Hand gemacht werden, eine mörderische Arbeit. Die Gruppe arbeitete vom Morgen bis zum Abend, und ein Drittel lag beständig mit Malaria darnieder. Das einzige bekannte Mittel dagegen war die arabische Heilmethode, die Ohrläppchen anzustechen und Blut abzuzapfen. Sie arbeiteten in der höllischen Hitze des Sommers, und der Schlamm ging ihnen bis an die Hüften.
Im zweiten Jahr war schon ein gewisser Erfolg dieser Schufterei zu sehen: ein Teil des Landes war urbar. Jetzt mußten die Steine mit Eselsgespannen von den Feldern geschleppt und das dichte Unterholz abgehackt und verbrannt werden.
In Tel Aviv setzte Yossi seinen Kampf um weitere Unterstützung des Experimentes fort. Er hatte etwas sehr Erstaunliches entdeckt. Die Sehnsucht, sich eine Heimat zu schaffen, war so stark, daß diese zwanzig Leute bereit waren, die schwerste Arbeit ohne Bezahlung auf sich zu nehmen.
In Schoschana nahmen die Strapazen und Schwierigkeiten kein Ende. Doch nach dem zweiten Jahr war schon so viel Land urbar gemacht, daß man an den Anbau denken konnte. Das war ein kritisches Unternehmen, denn die meisten Angehörigen der Gruppe hatten keine Ahnung von Landwirtschaft, ja sie wußten kaum, was der Unterschied zwischen einer Henne und einem Hahn war. Sie versuchten den Anbau auf gut Glück, und das Ergebnis war in den meisten Fällen ein Mißerfolg. Sie wußten nicht, wie man mit dem Pflug eine gerade Furche zieht, wie man sät oder eine Kuh melkt, oder wie man Bäume pflanzt. Der Boden war für sie ein ungeheures Rätsel.
Doch sie gingen dem Problem der Bodenbestellung mit der gleichen zähen Entschlossenheit zu Leibe wie dem Sumpf. Nachdem der Sumpf entwässert war, mußte der Boden künstlich bewässert werden. Zunächst wurde das Wasser in Kanistern auf Eselsrücken vom Fluß herangebracht. Man experimentierte mit einem arabischen Wasserrad und versuchte es mit Brunnen. Aber schließlich legten sie Bewässerungsgräben an und bauten Dämme, um das Wasser der winterlichen Regenfälle aufzufangen.
Nach und nach gab das Land seine Geheimnisse preis. Oftmals, wenn Yossi nach Schoschana kam, verschlug ihm die unvergleichliche Moral dieser Neusiedler den Atem. Sie besaßen nur das, was sie auf dem Leib trugen, und selbst das war genossenschaftliches Eigentum. In dem gemeinsamen Speiseraum verzehrten sie die denkbar kärglichsten Mahlzeiten, hatten gemeinsame Waschräume und schliefen alle unter ein und demselben Dach.
Die Araber und Beduinen sahen mit Erstaunen, wie die Siedlung Schoschana langsam, aber stetig wuchs. Als die Beduinen feststellten, daß mehrere hundert Morgen Land kultiviert waren, beschlossen sie, die Juden zu vertreiben. Alle Feldarbeit mußte von nun an unter dem Schutz bewaffneter Wachtposten verrichtet werden. Zu der Malaria und dem Überfluß an Arbeit kam nun auch das Problem der Sicherheit. Nach einem unerhört harten Arbeitstag auf den Feldern mußten die ermüdeten Siedler die Nacht über Wache stehen. Doch sie gaben Schoschana nicht auf und ließen sich durch ihre Isoliertheit und Unwissenheit, durch Drohungen der Beduinen, durch den Sumpf, die mörderische Hitze, die Malaria und ein Dutzend anderer Kalamitäten nicht beirren.
Jakob Rabinski kam nach Schoschana, um dort sein Glück zu versuchen; desgleichen Joseph Trumpeldor, der als Offizier im russischen Heer gedient und wegen seiner Tapferkeit im russischjapanischen Krieg, in dem er einen Arm verloren hatte, berühmt war. Der Appell des Zionismus hatte ihn nach Palästina gebracht. Nachdem Trumpeldor und Jakob für die Sicherheit zu sorgen begonnen hatten, hörten die Überfälle der Beduinen sehr bald auf. Doch das gemeinschaftliche Leben schuf noch andere Probleme: Fragen, die die Allgemeinheit betrafen; zwar regelte man sie durchaus demokratisch, doch die Juden neigten von Haus aus zur Unabhängigkeit, und nur selten waren zwei Juden einer Meinung. Würde das Verwalten also auf endloses Reden, Diskutieren und Streiten hinauslaufen?
Es entstanden Fragen der Arbeitseinteilung, der Verantwortlichkeit bei Krankheit, der Fürsorge und der Erziehung. Und was sollte mit denjenigen geschehen, die nicht bereit oder nicht in der Lage waren, den ganzen Tag zu arbeiten? Und mit denen, die mit der Arbeit unzufrieden waren, die man ihnen übertragen hatte? Oder mit denen, denen das Essen nicht schmeckte, oder die nicht damit einverstanden waren, in so engen Unterkünften zusammenzuleben? Und wie sollte man persönliche Reibereien schlichten?
Aber eins schien stärker zu sein als alle diese Probleme: Jeder einzelne in Schoschana lehnte mit Leidenschaft die Umstände und Zustände ab, die aus ihm einen Ghetto-Juden gemacht hatten. Alle waren entschlossen, nie mehr in ein Ghetto zurückzukehren. Sie wollten sich durch ihrer Hände Arbeit eine Heimat schaffen.
Die Gemeinschaft von Schoschana hatte ihren eigenen Ehrenkodex und ihre eigene Gesellschaftsordnung. Ehen wurden durch Gemeinschaftsbeschluß geschlossen und geschieden. Man regelte das Leben innerhalb der Siedlung in einer Form, die sich über die traditionellen Bindungen hinwegsetzte. Man warf die Fesseln der Vergangenheit ab.
Nach der langen Zeit der Unterdrückung erlebten die Juden von Schoschana, was sie so lange ersehnt hatten: die Entstehung einer wahrhaft freien jüdischen Landbevölkerung. Zum erstenmal kleideten sich Juden wie Bauern, tanzten sie Horra beim Schein eines Holzfeuers, und den Boden zu bearbeiten und ein Heimatland zu schaffen, erschien ihnen als würdiger Lebenszweck.
Im Laufe der Zeit wurden Rasenflächen mit Blumen, Büschen und Bäumen angelegt und neue ansehnliche Gebäude errichtet. Für verheiratete Paare baute man kleine Häuschen. Eine Bibliothek wurde eingerichtet, und ein Arzt engagiert.
Dann kam der Aufstand der Frauen. Eine der vier Frauen, die von Anfang an dabeigewesen waren, ein untersetztes, wenig attraktives Mädchen namens Ruth, war die treibende Kraft der Rebellion. Auf den Versammlungen der Siedlungsgemeinschaft vertrat sie die Ansicht, daß die Frauen aus Rußland und Polen nicht aufgebrochen seien, um in Schoschana Domestiken zu werden. Sie forderten gleiches Recht und gleiche Verantwortlichkeit. Sie setzten die alten Tabus außer Kurs und nahmen gemeinsam mit den Männern an allen Arbeiten teil, sogar beim Pflügen der Felder. Sie übernahmen den Hühnerhof und den Gemüseanbau, und sie erwiesen sich den Männern an Fähigkeit und Ausdauer ebenbürtig. Sie lernten, mit Waffen umzugehen und standen nachts Wache.
Ruth, die Anführerin des Aufstandes der Frauen, hatte es besonders auf die fünfköpfige Kuhherde von Schoschana abgesehen. Sie war darauf versessen, die Kühe zu übernehmen. Doch ihr Ehrgeiz scheiterte am Widerstand der Männer. Die Mädchen gingen wirklich zu weit! Jakob, der wortgewaltigste Vertreter der Männlichkeit, wurde zum Kampf gegen Ruth vorgeschickt. Sie sollte schließlich begreifen, daß es für Frauen zu gefährlich war, mit Kühen umzugehen. Außerdem stellten diese fünf Kühe den wertvollsten und am sorgsamsten gehüteten Schatz von Schoschana dar. Alle waren sehr erstaunt, als Ruth sich ohne Widerrede fügte. Das sah ihr so gar nicht ähnlich! Einen Monat lang erwähnte sie die Sache mit keinem weiteren Wort. Statt dessen stahl sie sich bei jeder Gelegenheit davon und ging in das nahegelegene Araberdorf, um dort die schwierige Kunst des Melkens zu erlernen. In ihrer freien Zeit las sie alle Broschüren über Milchwirtschaft, die sie erwischen konnte.