Die Position des Mufti von Jerusalem wurde mit jedem Tag stärker. Er besaß jetzt einen mächtigen Verbündeten: Adolf Hitler. Für die Deutschen, die im Nahen Osten eigene Absichten hatten, war die Situation ideal. Was konnte es für die deutsche Propagandamaschine Besseres geben, als das Thema ausschlachten zu können, daß die Juden in Palästina das Land der Araber stahlen und dort versuchten, sich genau wie vorher in Deutschland, breitzumachen. Judenhaß und britischer Imperialismus — das war Musik für die Ohren des Mufti! Der Stern der Deutschen war im Steigen. Und endlich, endlich sah Hadsch Amin el Husseini Mittel und Wege, die Macht über die arabische Welt an sich zu reißen. Deutsches Geld begann in Kairo und Damaskus zu rollen. Die Deutschen sind eure Freunde! Werft die Briten und die Juden hinaus! Die arabische Erde den Arabern! In Kairo, Bagdad und Syrien umarmten sich Araber und Nazis und beteuerten einander ihre Freundschaft.
Dem bedrohlich aufziehenden Unwetter gegenüber hatten die Juden in Palästina noch immer einen Trumpf in der Hand — die Hagana! Zwar distanzierte sich der Jischuw-Zentralrat offiziell von dieser geheimen Armee, doch ihr Vorhandensein und ihre Stärke waren ein offenes Geheimnis. Die Engländer wußten, daß diese geheime Streitmacht bestand und, was noch wichtiger war, auch der Mufti wußte es.
Die Hagana hatte sich aus dem Nichts zu einer Streitmacht von mehr als fünfundzwanzigtausend Männern und Frauen entwickelt. Sie war eine reine Bürgerwehr, mit nur einigen »bezahlten« hauptamtlichen Anführern. Die Hagana verfügte über einen kleinen, aber unerhört schlagkräftigen Geheimdienst, der sich nicht nur der offenen Mitarbeit vieler englischer Offiziere erfreute, sondern sich außerdem leicht arabische Spitzel kaufen konnte. Jede Stadt, jedes Dorf, jeder Kibbuz und Moschaw hatte seine eigene Hagana-Einheit. Ein einziges Stichwort reichte aus, um tausend Männer und Frauen innerhalb weniger Minuten zu bewaffnen und kampfbereit zu machen.
Avidan, der kahlköpfige, vierschrötige ehemalige Offizier, der an der Spitze der Hagana stand, hatte die Organisation im Verlauf von anderthalb Jahrzehnten sozusagen unter den Augen der Engländer umsichtig aufgebaut. Ihre Leistung war phantastisch: sie unterhielt einen geheimen Sender, organisierte die illegale Einwanderung und hatte auf der ganzen Welt ihre Agenten, die Waffen kauften und nach Palästina schmuggelten.
Für diesen Waffenschmuggel gab es hundert verschiedene Methoden und Möglichkeiten. Ein besonders beliebtes Versteck waren Maschinen für Hoch- und Tiefbau. Fast jede Dampfwalze konnte in der Walze hundert Gewehre enthalten. Jede Kiste, jede Maschine, ja sogar Konserven und Weinflaschen, die nach Palästina hereinkamen, waren Munitionsbehälter. Es war für die Engländer unmöglich, diesen Waffenschmuggel zu unterbinden, ohne sämtliche Frachtgüter zu überprüfen, und viele Engländer ließen in den Häfen sogar absichtlich die Waffen herein.
Obwohl alle Juden in Palästina geschlossen hinter diesem WaffenSchmuggel standen, war es dennoch nicht möglich, schwere Waffen oder auch nur ausreichende Mengen von erstklassigen leichten Waffen ins Land zu bringen. Das meiste von dem, was hereinkam, waren altmodische Gewehre und Pistolen, die in anderen Ländern ausrangiert worden waren. Kein Arsenal der Welt enthielt ein derartiges Konglomerat von Waffen, wie das der Hagana. Es befanden sich sogar Spazierstöcke darunter, aus denen man einen Schuß abgeben konnte.
Waren die Waffen erst einmal im Lande, so stellte jeder Stuhl, Tisch oder Schreibtisch, jeder Eisschrank, jedes Bett und jedes Sofa ein mögliches Versteck dar. In jeder jüdischen Wohnung gab es wenigstens ein Schubfach mit doppeltem Boden, einen getarnten Wandschrank oder eine heimliche Falltür. Transportiert wurden die Waffen im Innern der Reservereifen von Autobussen, in Einkaufstaschen und unter Eselskarren. Die Hagana vertraute der Wohlerzogenheit der Engländer, indem sie für den Waffenschmuggel sogar Kinder verwendete und sich des sichersten aller Verstecke bediente — der Frauenröcke.
Beim Aufbau der Hagana erwies sich der Kibbuz mit seinem Gemeinschaftscharakter als die beste Ausbildungsstätte für junge Soldaten, weil ein oder zwei Dutzend Männer von einer drei- bis vierhundertköpfigen Kollektivsiedlung leicht und unauffällig absorbiert werden konnten. Aus den Kibbuzim kam daher der beste Nachwuchs für die Hagana.
Gleichzeitig waren die Kibbuzim auch ein hervorragendes Versteck für Waffen und ein sicherer Herstellungsort für Munition. Im übrigen erwiesen sie sich auch als ideale Plätze zur Unterbringung der illegal ins Land geschleusten Einwanderer.
Die besondere Stärke der Hagana war, daß ihre Autorität von sämtlichen Angehörigen des Jischuw ohne jeden Einwand akzeptiert wurde. Eine Anordnung der Hagana war ein Befehl, über den es keinerlei Diskussion gab. Avidan und die anderen Anführer der Hagana achteten sorgfältig darauf, ihre Streitmacht nur zum Zwecke des Selbstschutzes einzusetzen. Die Hagana war eine Armee, die sich größter Zurückhaltung befleißigte.
Viele Angehörige der Hagana fanden diese Zurückhaltung zu weitgehend. Das waren die Aktivisten, die die Forderung nach raschen Vergeltungsmaßnahmen erhoben.
Akiba war einer dieser Aktivisten. Nach außen hin war er Leiter der Meierei im Kibbuz Ejn Or, in Wirklichkeit aber bekleidete er einen hohen Rang in der Hagana und war für die gesamte Verteidigung von Galiläa verantwortlich.
Akiba war sein Alter viel deutlicher anzusehen als seinem Bruder Barak. Sein Gesicht hatte einen müden Ausdruck, und sein Bart war fast grau. Er war niemals ganz über den Tod von Ruth und Scharona hinweggekommen. In ihm war eine Bitterkeit geblieben, die Tag für Tag an ihm fraß.
Er war der Wortführer der extremen Gruppe innerhalb der Hagana, die nach verstärkter Aktion verlangte. Und je schwieriger die Situation im Lauf der Zeit wurde, um so angriffshungriger wurde Akibas Gruppe. Als die Engländer vor der Küste von Palästina die Blockade errichteten, riß Akiba die Geduld. Er berief eine RumpfSitzung seiner Anhänger innerhalb der Hagana ein. Diese Männer waren alle ebenso zornig und verbittert wie er selbst, und sie faßten einen Entschluß, der den Jischuw in seinen Grundfesten erzittern lassen sollte.
Im Frühjahr des Jahres 1934 erhielt Barak eine dringende Aufforderung von Avidan, nach Jerusalem zu kommen.
»Es ist etwas Entsetzliches geschehen, Barak«, sagte Avidan. »Ihr Bruder, Akiba, hat sich von der Hagana getrennt und Dutzende unserer besten Offiziere mitgenommen. Auch aus dem Mannschaftsstand gehen die Leute in Hunderten zu ihm über.«
Als sich Barak von seinem ersten Schreck erholt hatte, seufzte er tief und sagte: »Seit Jahren schon hat er damit gedroht. Ich bin erstaunt, daß er sich überhaupt so lange zurückgehalten hat. Jahrzehntelang hat es an ihm gefressen, seit dem Tag, an dem unser Vater umgebracht wurde. Und auch den Tod seiner Frau hat er nie verwinden können.«
»Sie wissen«, sagte Avidan, »daß die Hälfte meiner Arbeit bei der Hagana darin besteht, unsere Jungens zurückzuhalten. Ließen wir sie gewähren, sie fingen morgen noch Krieg gegen die Engländer an. Sie und ich, wir fühlen im Grunde genauso wie Akiba, doch was er jetzt vorhat, kann uns unter Umständen alle ins Verderben stürzen. Daß wir in Palästina erreichen konnten, was wir erreicht haben, liegt unter anderem auch daran, daß wir ungeachtet unserer inneren Differenzen nach außenhin stets geschlossen aufgetreten sind. Wenn die Engländer und die Araber mit uns verhandelten, so hatten sie es sozusagen immer mit einer einzigen Person zu tun. Jetzt hat Akiba eine Bande hitziger Aktivisten um sich versammelt. Wenn diese Leute dazu übergehen sollten, Terrormethoden anzuwenden, dann wird die Gesamtheit darunter zu leiden haben.«
Barak begab sich nach Ejn Or, das nicht weit von Yad El entfernt war. Gleich den meisten der älteren Kibbuzim hatte sich auch Ejn Or in einen wahren Garten verwandelt. Als älteres Mitglied und einer der Mitbegründer bewohnte Akiba ein separates Häuschen, dessen zwei Zimmer mit Büchern angefüllt waren. Er hatte sogar einen eigenen Radioapparat und ein eigenes WC — was in einem Kibbuz eine seltene Ausnahme darstellte.