»Wie? Nein, aber ich kann leider nicht so lange bleiben; ich wollte nur nicht wieder abreisen, ohne hier hereingeschaut zu haben. Waren glückliche Jahre damals. Kommen einem wenigstens jetzt so vor, nicht?«
Brade nickte. »Ich weiß, was Sie meinen. Schade, dass wir Sie nicht wenigstens einen Tag hier haben. Sind Sie schon lange in der Stadt?« »Seit über einer Woche. Hätte schon früher kommen sollen. Persönliche Angelegenheiten. Familie. Muss mir aber die beiden letzten Tage für den alten Cap reservieren.«
Der alte Cap! Brade ärgerte sich jetzt über den Ausdruck. Cap war alt, ja; über siebzig. Aber Kinsky ging auch schon stark auf die Sechzig zu. Doch da stand Cap und war offensichtlich gar nicht verärgert, sondern blickte Kinsky liebevoll an.
Cap sah Kinsky an, den begabten Schüler, die Leuchte der Chemie, den Mann, der seinem Lehrer Ehre machte.
Und Brade musste sich eingestehen, dass er eifersüchtig war; er war der gering eingeschätzte, wenig bemerkenswerte Student, der nun im Schatten des heimgekehrten erfolgreichen Studenten stand. Er zwang sich zu einem ruhigen Ton, als er sagte: »Ich brauche Ihnen wohl nicht zu versichern, wie sehr ich Ihre Arbeiten über die Tetrazyklin-Synthese bewundere.«
»Ach, Unsinn.« Kinsky machte eine burschikos-wegwerfende Geste. »Nicht der Rede wert. Moran-Winter in Cambridge ist mir weit voraus.« »Er geht aber von einer anderen Seite heran. Ich glaube, das Aldosteron packen Sie vor ihm.«
»Meinen Sie? Wirklich? Das ist eigenartig, dass Sie das sagen. Sehr eigenartig, wenn man bedenkt -«
Cap Anson unterbrach ihn. »Joe war so liebenswürdig, sich gestern freizunehmen und einen Abend bei mir zu Hause zu verbringen. Er findet mein Buch sehr interessant.« Der alte Mann lachte leise und höchst befriedigt.
»O ja. O ja. Die Chemiker brauchen dieses Buch. Unbedingt. Zu viele von uns leben nur in der Gegenwart. Die Mathematiker und Physiker kennen die Geschichte ihrer Wissenschaft, weil neue Erkenntnisse die alten ergänzen. In der Chemie dagegen scheinen neue Erkenntnisse die alten zu ersetzen. Deshalb besteht die Neigung, die alten zu vergessen; und auf diese Weise wird zu vieles vergessen. Das Alte ist die Grundlage für das Neue. Ohne das Alte kann das Neue nicht recht verstanden werden.« »Sehr richtig«, murmelte Brade.
»Und Cap ist der Bursche, der uns das mal unter die Nase reibt. Wer diesen Stoff bringt, muss mehr sein als nur Chemiker. Der muss auch Philosoph sein, und das ist Cap ja auch.«
Wieder lachte Cap Anson in sich hinein, und Brade nickte ein wenig zögernd. Eine richtige Liebesorgie. Erwünschte, die Szene wäre beendet. Sie wirkte auf ihn niederdrückend.
Kinsky fuhr fort: »Früher war der alte Cap für mich natürlich niemals ein Philosoph. Eher ein Zuchtmeister.«
Brade lächelte schwach. »Das war er auch noch zu meiner Zeit.« »Er muss aber inzwischen einen kleineren Gang eingeschaltet haben. Doch, das muss er. Als ich ihn kennenlernte, war er in den Dreißigern. Voller Schwung und bärbeißig. Damals hat er seinen Namen bekommen. Ich wette, Sie kennen seinen richtigen Namen nicht. Ich wette, keiner kennt ihn, ohne vorher nachzuschlagen, wie?« Er machte ein sehr selbstzufriedenes Gesicht. Brade sah ihn interessiert an. »Heißt das, dass Sie ihm den Namen Cap gegeben haben?« »Ja, sicher. Was glauben Sie, warum er Cap heißt?« »Keine Ahnung. Ich kann mich erinnern, dass es früher mal einen Baseballspieler namens Cap Anson gab.«
»Das mag dazu beigetragen haben, dass der Name gleich saß, hatte aber nichts mit seinem Ursprung zu tun.«
»Cap soll einmal ein Boot besessen haben, habe ich gehört.« Brade sah den Witz, der darin liegen mochte. »Vielleicht ein Ruderboot.« Cap Anson, der den beiden mit wachsendem Zorn zugehört hatte, rief: »Das ist Unsinn!« Er stieß mit dem Stock zweimal gebieterisch auf. »Nein«, erwiderte Kinsky sofort. »Das ist gar kein Unsinn. Eine authentische Anson-Anekdote. Er hatte mich mal richtig heruntergemacht wegen einer Arbeit. Und Schimpfnamen hat er mir an den Kopf geworfen. Als ich dann dachte, jetzt fängt er noch an zu brüllen, da hörte er plötzlich auf. Und sah mich ganz fest an. Und sagte: >Kinsky, wenn Sie unter meiner Anleitung experimentieren, dann vergessen Sie nicht, dass ich der Kapitän des Schiffes bin. Sie können denken, was Sie wollen, bis ich Ihnen sage, was Sie zu denken haben. Von da ab denken Sie so, wie ich will, weil ich der Kapitän bin und Sie der Schiffsjunge. Verstanden?( So war's. Genauso. Von dem Tag an habe ich ihn nur noch Cap genannt, und bald kannte ihn keiner mehr unter einem andern Namen.«
Anson machte ein finsteres Gesicht. »Das ist alles nicht wahr.« Aus Mitgefühl mit seinem in Verlegenheit gebrachten Lehrer kehrte Brade unvermittelt zu seinem früheren Thema zurück. »Wie sind die Chancen einer erfolgreichen Aldosteron-Synthese, Dr. Kinsky - falls Sie darüber jetzt sprechen wollen?« »Kommt darauf an, kommt darauf an«, erwiderte Kinsky ein wenig geziert. »Nach meiner Ansicht sind sie recht gut, aber natürlich nicht nach Ihrer.«
»Nach meiner? Aber ich verstehe ja nichts davon - oder fast nichts.« »Ich dachte an Ihren Studenten. Schreckliche Sache. Hat mir furchtbar leid getan.«
»Ist nicht zu ändern«, murmelte Brade. »Welcher meiner Studenten hat sich denn für die Aldosteron-Synthese interessiert?« Kinsky sah ihn überrascht an. »Na, der, der jetzt den Unfall hatte. Wie hieß er noch - Neufeld. Er war absolut überzeugt, dass ich mit meiner Methode nie auf Aldosteron stoße. Ein sehr dogmatischer junger Mann. Hat mir das ins Gesicht gesagt.« »Was?« rief Brade erstaunt aus. »Sie haben mit ihm gesprochen?«
»Ja, auf der Chemikertagung in Atlantic City letztes Jahr.« »Richtig, da ist er ja hingefahren. Ich hatte beantragt, dass das Institut seine Reisespesen übernimmt. Aber dass er mit Ihnen gesprochen hat, davon wusste ich nichts.«
Kinsky schnaubte durch die Nase. »Hat die Angelegenheit zweifellos nicht für erwähnenswert gehalten. Kam zu mir, nachdem ich meinen Vortrag über das Thema gehalten hatte, stellte sich vor und sagte ganz kalt, ich könnte mit meiner Methode unmöglich die geplante Synthese durchführen. Wollte mir nicht sagen, was er daran für falsch hielt. Hat mich praktisch einen Idioten genannt. Ganzes Jahr her jetzt, und ich hab's noch immer nicht vergessen. Übrigens, Brade, was wird nun aus seinem Thema, wo er tot ist?«
War es Brades überempfindliche Phantasie oder funkelten Kinskys Augen wirklich interessiert auf, als er diese Frage stellte?
18
Brade saß überrascht da und überlegte, wobei er zuerst Kinsky und dann Anson ansah, der die Lippen fest zusammengepresst hatte -offenbar dachte er an ihre letzte Begegnung, als gerade diese Angelegenheit zwischen ihnen zur Sprache gekommen war. Brade fragte sich, was er sagen sollte.
Er versuchte es auf die ausweichende Art. »Ich hatte noch keine Zeit, richtig darüber nachzudenken.«
Aber Anson rief in mürrischem Ton dazwischen: »Er hat vor, die Arbeit fortzuführen. Gegen meinen Rat, möchte ich hinzufügen. Ich werde alt, Kinsky. Früher sind meine Studenten meinem Rat gefolgt.« »Nun«, sagte Kinsky etwas verlegen, »wir werden alle alt.« Aber es trat ein Schweigen ein, und auf allen dreien lastete das Unbehagliche der Situation.
Schließlich stand Kinsky auf und sagte: »Ich habe mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen, Brade. Wenn Sie mal in meine Gegend kommen, schauen Sie doch bitte bei mir herein.« »Vielen Dank, das werde ich tun.« Sie schüttelten sich die Hände.