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Anson sagte in einem Ton, in dem noch immer ein wenig Schärfe mitklang: »Und, Brade, ich bin um fünf Uhr heute nachmittag bei Ihnen hier oben, um diese Vorlesungen über die Sicherheitsbestimmungen mit Ihnen zu besprechen. Punkt fünf Uhr.«

»Fünf Uhr«, erwiderte Brade. Es war typisch für Cap, dass er die Möglichkeit, dass Brade um fünf Uhr etwas anderes zu tun haben könnte, überhaupt nicht in Betracht zog.

Kinsky lächelte. »Und wenn Cap sagt, fünf Uhr, dann meint er nicht eine Minute nach fünf. Oder hat er sich inzwischen geändert?«

»Nein, das hat er nicht«, erwiderte Brade.

Brade verspürte ein eigenartiges Gefühl der Bitterkeit. Es war, als hätte er seinen Vater verloren, dessen Existenz er sich gar nicht bewusst gewesen war. Aber war Cap Anson nicht eine Art Vater?

Es wurde ihm nun deutlich, nachdem er ihn dort hatte stehen sehen, neben seinem älteren Sohn, dem erfolgreichen Sohn, dem Sohn, der ihm Ehre gemacht hatte, der getan hatte, was ihm gesagt wurde, und sich ergeben vom Kapitän des Schiffes hatte abkanzeln lassen. Während Brade, der unwürdige Sohn, sich in eine Stellung ohne Aufstiegsmöglichkeiten hineinmanövriert hatte und diese Stellung vielleicht noch verlor. Und sich starrköpfig gezeigt hatte, als der gute alte Cap ihn auf einen neuen Weg führen wollte.

Armer Cap! Er war in Ehren und Ansehen alt geworden und beschloss seine Tage dennoch in Unsicherheit. Cap und sein Buch. Doris kommt zu mir zurück, dachte Brade, aber alles andere entzieht sich mir. Meine Doktoranden sterben. Ein Dissertationsthema löst sich in Betrug auf. Meine Stellung ist verloren. Cap Anson. . . In bitterer Selbstironie dachte er: Mein Vater liebt mich nicht. Er stand auf und ging durch die Verbindungstür in sein Labor. Es war einmal Teil des Arbeitszimmers gewesen, aber Anson hatte es abteilen und mit allen möglichen Anschlüssen einschließlich kalten und warmen Wassers und Gas versehen lassen.

Anson hatte immer die These vertreten, dass ein Professor, wie alt und verkalkt er auch war, nie vergessen durfte, wie sich ein Reagenzglas und eine Zange anfühlten. Er musste immer selbst ein paar Experimente durchführen - wie unwichtig, wie unbedeutend sie auch sein mochten. Brade war Anson auch in dieser Hinsicht gefolgt. Seine säurekatalysierten Umlagerungen unter Sauerstoffatmosphäre wollten nicht viel besagen, aber darauf kam es nicht an. Wichtig war, dass man, wie Anson sagte, etwas mit eigenen Händen tat und dabei ein Vergnügen empfand.

Doch nun sah Brade bekümmert auf seinen etwas wackeligen Versuchsaufbau und fragte sich, wo er dieses Vergnügen wohl finden mochte. Zur Zeit bot das verklebte Reaktionsgefäß einen höchst unvergnüglichen Anblick. Unvergnüglich in seinem hart gewordenen Inhalt, unvergnüglich in den Erinnerungen, die es auslöste. Er hatte die Anlage seit Donnerstag nachmittag nicht mehr berührt, als er auf der Suche nach titrierter Säure in Ralphs Labor gegangen war und einen toten Studenten vorgefunden hatte. Sie war seitdem abgestellt von dem Reaktionskolben über das Glas und Plastikröhrensystem bis zu der großen, blassgrünen Sauerstoffflasche. Ganz automatisch sah er zu der Flasche hinüber. Komisch! War die Flasche leer? Er hatte sie doch kurz vor dem letzten Experiment erst ausgewechselt. Der innere Druckmesser, der in die anderthalb Meter große Flasche hineinführte, hätte noch mindestens 500 Kilogramm pro Quadratzentimeter anzeigen müssen, aber das tat er nicht. Er zeigte auf Null.

Wie kam das?

War der Verschluss offen gewesen, war das Gas langsam ausgeströmt? Der äußere Anzeiger, der mit der Außenwelt verbunden war, stand auch auf Null. Er prüfte den Absperrhahn - er war abgestellt. Keine undichte Stelle.

Hatte er das Hauptventil geschlossen, den wenigen Sauerstoff aus den Anzeigern herausgelassen und dann auch das zweite Ventil geschlossen? Das wäre die richtige, ordnungsgemäße Verfahrensweise gewesen, aber er konnte sich nicht erinnern, diese Handgriffe getan zu haben.

Er fasste nach dem Hauptventil oben auf der Flasche und versuchte, es im Uhrzeigersinn herumzudrehen. Es ging nicht. Offensichtlich war das Ventil schon geschlossen.

Automatisch wollte seine Hand im entgegengesetzten Uhrzeigersinn drehen, um Sauerstoff in den Druckmesser strömen zu lassen und die Bewegungen der Nadeln beobachten zu können - aber da hielt er auch schon inne.

Es bestand kein Zweifel, dass sein Leben in dieser Sekunde in der Schwebe hing, und durch dieses Innehalten rettete er es. Nicht sein bewusstes Auge, sondern sein Chemikerauge, seine fünfundzwanzigjährige Erfahrung und Gewohnheit sah es, sah das, was nicht ins Bild gehörte, und ließ ihn innehalten.

Und das, was nicht ins Bild gehörte, bot sich dem bewussten Auge dar als ein schwaches Glitzern, als eine ölig-feuchte Kante an dem Gewindestück zwischen dem Hauptdruckmesser und der Flasche selbst. Er kratzte mit dem Fingernagel und roch daran.

Er schien in einer ungeheuren Stille allein zu sein, als er nach dem Schraubenschlüssel griff und das passende Ende um das sechseckige Verbindungsstück legte. Das Ventil ließ sich mit einem eigenartigen Rutschen herumdrehen, das nicht normal war.

Der Messer ging ab, und das ganze Gewinde war feucht. Das Nadelventil war feucht. Er konnte die Flüssigkeit nicht mit Sicherheit identifizieren, aber sie hatte die sirupartige Konsistenz von Glyzerol. Wenn er das Hauptventil tatsächlich im umgekehrten Uhrzeigersinn gedreht hätte, wäre unter dem Luftdruck der Explosion wahrscheinlich die Wand des Labors hinausgeflogen.

Brade ließ den Messer klappernd auf eine Arbeitsplatte fallen und setzte sich. Er zitterte heftig angesichts der Todesgefahr, in der er geschwebt hatte.

Als er sich beruhigt hatte - er wusste nicht, wieviel Zeit inzwischen vergangen war -, stand er auf und vergewisserte sich, ob die äußere Tür seines Labors geschlossen war. Dann schloss er auch die Tür seines Arbeitszimmers ab. Sollte man glauben, er sei zum Mittagessen gegangen. Mittagessen? Schon bei dem Gedanken drohte ihm übel zu werden.

Er starrte die Anzeiger an, die schimmernd feuchten und tödlichen Gewinde.

Er hatte die Flasche am Donnerstag benutzt, dem Tag, an dem Ralph ums Leben gekommen war. Damals war sie in Ordnung gewesen. Er hatte die Flasche seitdem nicht mehr benutzt, und jeder konnte in seinem Arbeitszimmer und Labor gewesen sein. Er war nicht Ralph. Er schloss sein Arbeitszimmer um fünf Uhr, wenn er ging, vielleicht ab -falls er daran dachte. Ganz bestimmt schloss er es nicht ab, wenn er beispielsweise ins Studentenlabor, in die Bibliothek oder zum Mittagessen ging.

Natürlich, Cap Anson war seit Donnerstag zweimal in seinem Labor gewesen, und das zweite Mal war Kinsky mit ihm zusammengewesen. Roberta war in Ralphs Labor gewesen, konnte auch in seinem gewesen sein. Praktisch jeder konnte in seinem Labor gewesen sein. Ohne es zu wollen, dachte er wieder an Kinsky. Der hatte sich in seinem Labor aufgehalten. Cap Anson war bei ihm gewesen, aber Cap brachte es fertig, sich plötzlich für etwas zu interessieren - eine Passage in einem Buch etwa, auf die man ihn hinwies - und dann für eine Zeitlang die Welt um sich her zu vergessen. Kinsky kannte gewiss diese Eigenart seines ehemaligen Lehrers. Er musste sie kennen. Ohne überlegen zu müssen, konstruierte er den Hergang der Ereignisse. Kinsky war Ralph begegnet. Ralph hatte sich damit gebrüstet, dass er mit seiner Arbeit beweisen würde, dass er, Kinsky, ein Idiot war. Gehörte Kinsky zu jener Gruppe von Menschen, die sich s0 viel auf ihr Wissen einbildeten, dass sie zu Mördern werden konnten, wenn ihr Ruf bedroht war? Hatte er Ralph getötet und vorgehabt, auch ihn, Brade, umzubringen, damit der Lehrer die Arbeit des Schülers nicht fortführte? Er hatte sich s0 angelegentlich danach erkundigt - und die Flasche war schon beschmiert gewesen. Hätte er das Glyzerol wieder abgewischt, wenn Brade ihn davon überzeugt hätte, dass er auf eine Fortführung der Arbeit verzichtete? Oder waren die Weichen endgültig gestellt gewesen - und hatte Kinsky nur eine morbide Neugier befriedigen wollen?