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»Merkwürdig«, sagte Fandorin und zuckte mit den Achseln. »Was ist das für ein Ritual? Es wird doch nicht schon einen Geheimbund der Selbstmörder geben?«

»Von wegen Geheimbund«, versetzte Gruschin gedehnt und fuhr dann, allmählich in Fahrt kommend, fort: »Nein, Verehrtester, das ist alles viel einfacher. Jetzt wird mir übrigens auch die Sache mit der Revolvertrommel klar, die uns so spanisch vorkam! Es ist immer ein und derselbe. Ein Schabernack unseres lieben Studenten Kukorin. Schauen Sie her!« Gruschin war aufgestanden und flink an den Moskauer Stadtplan getreten, der neben der Tür an der Wand hing. »Hier ist die Kleine Brücke über die Jausa. Von da ist er die Jausa-Straße entlang, hat sich noch ein Stündchen irgendwo rumgedrückt und dann wieder in der Podkolokolny sehen lassen, bei der Feuersozietät. Dort hat er der guten Frau Spizyna einen Schreck eingejagt und sich anschließend in Richtung Kreml davongemacht. Gegen drei ist er im Alexandergarten angelangt, wo der Stadtrundgang auf die uns bekannte Art sein Ende nahm.«

»Aber wozu? Was hat das alles zu bedeuten?« fragte Fandorin, während seine Augen noch an dem Plan klebten.

»Was es zu bedeuten hat, darüber habe ich mir keine Gedanken zu machen. Aber wie die Sache gelaufen ist, kann ich mir vorstellen. Unser aristokratisches Studentlein hatte beschlossen, der Welt Adieu zu sagen. Aber vor dem Tod brauchte er noch einen kleinen Nervenkitzel. Irgendwo hab ich gelesen, daß dieses Spielchen amerikanisches Roulette genannt wird. Weil die Amerikaner es sich ausgedacht haben, in ihren Goldgruben. Du lädst die Trommel mit nur einer Patrone, läßt sie rotieren und drückst ab. Wenn du Glück hast, sprengst du die Bank, wenn nicht - pardon und adieu. So hat unser Studentlein einen Rundgang unternommen und dabei sein Schicksal herausgefordert. Gut möglich, daß er öfter als dreimal abgedrückt hat, nicht jeder Augenzeuge ruft gleich die Polizei. Die Gutsfrau mit ihrem Abonnement auf Seelenrettung und dieser Kukin mit seinen pri- vatimen Interessen waren nur wachsamer als andere - wie viele Versuche Kukorin im ganzen unternommen hat, weiß der liebe Gott. Vielleicht hat er auch eine Abmachung mit sich selber getroffen, so und so viele Runden spiele ich mit dem Tod, überlebe ich, dann soll es so sein. Aber das sind schon meine ganz persönlichen Phantasien. Jedenfalls war die Szene im Alexandergarten kein fatales Mißgeschick. Fortuna hat den jungen Mann zur dritten Mittagsstunde einfach mal im Stich gelassen.«

»Xaveri Feofilaktowitsch, Sie sind ein großes analytisches Talent!« Fandorin war aufrichtig begeistert. »Ich sehe geradezu vor mir, wie alles war.«

Das Lob schmeichelte Gruschin, auch wenn es von einem Milchbart kam.

»Nun ja. Man kann auch von alten Narren noch etwas mitkriegen«, versetzte er in überlegenem Tonfall. »Sie hätten mal wie ich das kriminalistische Handwerk erlernen sollen, nicht in so hochkulturellen Zeiten wie den heutigen, nein, unter Nikolaus I. Damals kannte man das Wort Kriminalpolizei noch gar nicht, und es gab in Moskau noch keine Behörde wie diese, nicht mal eine eigene Ermittlungsabteilung. Man hat einfach alles gemacht: heute einen Mörder gesucht, morgen zur Abschreckung auf dem Jahrmarkt herumgestanden und übermorgen die Kneipentour, ausweislose Existenzen aufspüren. Das schult die Beobachtungsgabe, die Menschenkenntnis, na, und man kriegt ein dickes Fell, ohne das man im Polizeiwesen nicht weit kommt!« endete der Kommissar mit einem Seitenhieb auf seinen Schriftführer und merkte erst jetzt, daß der ihm gar nicht zuzuhören schien und statt dessen seinen eignen Gedanken nachhing, die sichtlich nicht sonniger Natur waren.

»Was haben Sie denn noch, spucken Sie’s aus.«

»Ja, eines verstehe ich immer noch nicht . « Nervös zuckten Fandorins Brauen, zwei schöne Halbmonde. »Dieser Kukin gibt an, ein Student hätte auf der Brücke gestanden.«

»Natürlich, unser Student, wer sonst?«

»Und woher weiß ein Kukin, daß Kokorin Student ist? Er trug Gehrock und Hut, niemand im Alexandergarten hielt ihn für einen Studenten. In den Protokollen steht immer nur >dieser Mann< oder >der junge Herr< ... Das ist mir ein Rätsel!«

»Sie immer mit Ihren Rätseln!« Gruschin winkte ab. »Ein Idiot mag dieser Kukin sein, und basta. Er sieht einen jungen Herrn in Zivil und denkt: aha, ein Student. Oder er hat als Verkäufer ein Auge dafür, kennt seine Kundschaft, weil er von früh bis spät mit ihr zu tun hat.«

»Einen Kunden wie Kokorin hat Kukin in seinem Krämerladen noch nie zu Gesicht bekommen«, widersprach Fandorin.

»Na und? Was wollen Sie damit sagen?«

»Ich will damit sagen, daß es nicht verkehrt sein kann, Frau Spizyna und Herrn Kukin zu befragen. Sie, Xaveri Filakto- witsch, haben freilich nicht die Zeit, sich um solche Kleinigkeiten zu kümmern, aber wenn Sie nichts dagegen haben, könnte ich . « Fandorin hatte sich gar ein wenig vom Stuhl erhoben, so sehr wünschte er, daß Gruschin nichts dagegen haben mochte.

Gruschin wollte schon ein strenges Gesicht aufsetzen, besann sich jedoch. Ein bißchen Praxis zu schnuppern, zu lernen, wie man mit Zeugen umging, konnte dem Bürschchen wahrlich nicht schaden. Vielleicht wurde ja so noch etwas aus ihm. Und Gruschin sagte in großspurigem Ton: »Nichts einzuwenden!« Um dem Freudenschrei, der sich von des Kollegienregistrators Lippen lösen wollte, zuvorzukommen, fügte er hinzu: »Aber zuerst bitte ich gefälligst den Bericht für Seine Exzellenz zu Ende zu schreiben. Und noch etwas, mein Bester. Wir haben es jetzt vier Uhr. Darum begebe ich mich in mein trautes Heim. Und Sie erzählen mir morgen, wo der Verkäufer den Studenten her hat.«

DRITTES KAPITEL,

in welchem ein »grummer« Student auftaucht

Von der Mjasnizkaja, wo sich das Kriminalamt befand, bis zum Hotel »Bojarskaja« - laut Sammelbericht »vorübergehender Aufenthaltsort« der Gutsfrau Spizyna - waren es zwanzig Minuten zu Fuß, und Fandorin beschloß, der nagenden Ungeduld zum Trotz, diesen Weg tatsächlich zu Fuß zu gehen. Nicht genug, daß Lord Byron, dieser Quälgeist, dem Schriftführer unbarmherzig in die Seiten drückte - er hatte obendrein eine solche Bresche in sein Budget geschlagen, daß der Aufwand für die Droschke unweigerlich die Verpflegungsration beschnitten hätte. Die an der Ecke Gusjatnikow-Gasse gekaufte Lachspirogge kauend (uns ist nicht entgangen, daß Fandorin in seinem Ermittlungsfieber zu keinem Mittagessen gekommen war), schritt er eilig den Tschistoprudny Boulevard entlang, wo vorsintflutliche Weiblein in Hauben und hängenden Mänteln den fetten, frechen Tauben Brotkrümel vor die Schnäbel streuten. An ihm vorbei ratterten Kaleschen und Phaetons über das Straßenpflaster, mit denen Fandorin unmöglich mithalten konnte, und seine Gedanken nahmen eine verdrossene Richtung. Ein Detektiv zu Fuß, ohne Kutsche, ohne feurige Traber war eigentlich undenkbar. Gut, das Hotel »Bojarskaja« auf der Pokrowka ließ sich gerade noch so erlaufen, doch anschließend mußte er zur Jausa hinuntermarschieren, zum Kolonialwarenhändler Kukin - das brauchte gut eine halbe Stunde, das kam einem langen Sterben gleich, erboste sich