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Mit Ausnahme einer Einzelheit waren die Galloways freundliche und ungezwungene Menschen. Solange Lady Margaret nicht den Arm jenes Abenteurers O’Brien nahm, war ihr Vater völlig zufrieden; und das hatte sie nicht getan; sie war sittsam mit Dr. Simon von dannen geschritten. Dennoch war der alte Lord Galloway unruhig und fast grob. Während des Abendessens verhielt er sich durchaus diplomatisch, als aber drei der jüngeren Herren – Simon der Arzt, Brown der Priester und jener fatale O’Brien, der Exilant in fremder Uniform – mit ihren Zigarren verschwanden, um sich unter die Damen zu mischen oder um im Wintergarten zu rauchen, wurde der englische Diplomat höchst undiplomatisch. Alle sechzig Sekunden stachelte ihn der Gedanke, daß der Lump O’Brien auf irgendeine Weise Margaret Zeichen mache; er versuchte nicht einmal sich vorzustellen wie. Er war beim Kaffee zurückgeblieben mit Brayne, dem weißhaarigen Yankee, der an alle Religionen glaubte, und mit Valentin, dem ergrauten Franzosen, der an keine glaubte. Sie mochten miteinander diskutieren, aber keiner von beiden interessierte ihn. Nach einer Weile hatte diese »fortschrittliche« Wortklauberei eine Krise der Langweiligkeit erreicht; Lord Galloway erhob sich ebenfalls und schritt in den Salon. Auf seinem Weg durch die langen Gänge verlor er sich für 6 oder 8 Minuten, bis er die schrille, belehrende Stimme des Arztes hörte und dann die farblose des Priesters, worauf allgemeines Gelächter folgte. Die stritten also, dachte er mit einem Fluch, offenbar auch über »Wissenschaft und Religion«. Aber in dem Augenblick, in dem er die Tür zum salon öffnete, sah er nur eines – er sah, was nicht da war. Er sah, daß Major O’Brien abwesend war und daß Lady Margaret ebenfalls abwesend war.

So ungeduldig, wie er zuvor aus dem Speisesaal gestürmt war, stürmte er nun auch aus dem Salon und stampfte wieder durch die Gänge. Die Vorstellung, seine Tochter vor dem irisch-algerischen Tunichtgut schützen zu müssen, war in seinem Geist zu etwas Zentralem, ja selbst Verrücktem geworden. Als er auf die Rückseite des Hauses zuschritt, wo sich Valentins Arbeitszimmer befand, traf er überraschend auf seine Tochter, die mit weißem, verächtlichem Antlitz an ihm vorbei fegte, ein zweites Rätsel. Wenn sie bei O’Brien gewesen war, wo war dann O’Brien? Wenn sie nicht bei O’Brien gewesen war, wo war sie dann gewesen? Besessen von einem greisenhaften und leidenschaftlichen Verdacht suchte er sich einen Weg in die dunklen Hinterräume des Hauses und fand schließlich einen Dienstboteneingang, der sich zum Garten hin öffnete. Der Mond hatte mit seiner Türkensichel inzwischen alles Sturmgewölk zerfetzt und beiseite geräumt. Das silberne Licht erhellte alle vier Ecken des Gartens. Eine große Gestalt in Blau schritt über den Rasen auf die Tür des Arbeitszimmers zu; im Mondlicht schimmernde silberne Aufschläge machten ihn als Major O’Brien erkenntlich.

Er verschwand durch die Terrassentür im Haus und ließ Lord Galloway in einer unbeschreiblichen Laune zurück, zugleich bösartig und verschwommen. Der bläulich-silberne Garten schien ihn wie eine Theaterszene mit all jener tyrannischen Zärtlichkeit zu verhöhnen, gegen die seine weltliche Autorität zu Felde zog. Die langen und anmutigen Schritte des Iren erfüllten ihn so mit Zorn, als wäre er ein Nebenbuhler und nicht der Vater; das Mondlicht machte ihn toll. Wie durch einen Zauber war er in einem Garten der Minnesänger gefangen, in einem Feenreich von Watteau; und um solche verliebten Narreteien von sich abzuschütteln durch Sprechen, eilte er entschlossen seinem Gegner nach. Dabei stolperte er über einen Baum oder einen Stein im Gras, sah nach unten, zuerst irritiert, dann ein zweites Mal voller Neugier. Im nächsten Augenblick blickten der Mond und die hohen Pappeln auf ein ungewöhnliches Schauspiel – einen englischen Diplomaten würdigen Alters, der aus Leibeskräften rannte und schrie, ja brüllte, während er rannte.

Seine rauhen Schreie brachten ein bleiches Gesicht an die Tür des Arbeitszimmers, die glänzenden Brillengläser und die sorgendurchfurchte Stirn von Dr. Simon, der des Edelmannes erste deutliche Worte vernahm. Lord Galloway schrie: »Eine Leiche im Gras – eine blutbefleckte Leiche.« O’Brien war ihm endlich völlig aus dem Geist entschwunden.

»Wir müssen sofort Valentin verständigen«, sagte der Doktor, als der andere ihm gebrochen beschrieben hatte, was alles er sich zu untersuchen getraut hatte. »Wie gut, daß er hier ist«; und noch während er sprach, betrat der große Detektiv das Arbeitszimmer, von dem Schrei herbeigelockt. Es war fast komisch, die für ihn charakteristische Verwandlung zu beobachten; er war mit der normalen Besorgnis eines Gastgebers und Gentlemans herbeigeeilt, der befürchtete, daß sich ein Gast oder Diener plötzlich unwohl fühlte. Doch als man ihm die blutige Tatsache berichtet hatte, wurde er mit all seiner Ernsthaftigkeit wach und geschäftsmäßig; denn dieses war, wie unerwartet und furchtbar auch immer, sein Geschäft.

»Wie sonderbar, meine Herren«, sagte er, als sie in den Garten hinauseilten, »daß ich in der ganzen Welt Geheimnissen nachgejagt bin und daß jetzt eines kommt und sich in meinem eigenen Garten niederläßt. Wo ist es denn?« Sie überquerten den Rasen nicht mehr ganz so mühelos, denn ein leichter Nebel begann, vom Fluß aufzusteigen; doch unter der Führung des erschütterten Galloway fanden sie den ins tiefe Gras hingesunkenen Körper – den Körper eines sehr großen und breitschultrigen Mannes. Er lag mit dem Gesicht zum Boden, so daß sie nur sehen konnten, daß seine breiten Schultern in schwarzes Tuch gekleidet waren und daß sein mächtiger Kopf kahl war bis auf ein oder zwei Büschelchen braunen Haares, die an seinem Schädel klebten wie nasser Seetang. Eine scharlachne Schlange aus Blut kroch unter seinem gefallenen Gesicht hervor.

»Wenigstens ist es«, sagte Simon in tiefer und sonderbarer Betonung, »keiner von unserer Gesellschaft.«

»Untersuchen Sie ihn, Doktor«, rief Valentin ziemlich scharf. »Vielleicht ist er noch nicht tot.«

Der Doktor beugte sich nieder. »Er ist noch nicht kalt, aber er ist leider tot genug«, antwortete er. »Helfen Sie mir, ihn aufzuheben.«

Man hob ihn sorgsam einen Zoll vom Boden auf, und alle Zweifel, ob er wirklich tot sei, wurden sofort und fürchterlich beseitigt. Der Kopf fiel ab. Er war vollständig vom Körper abgetrennt; wer immer ihm die Gurgel durchgeschnitten hatte, hatte es geschafft, ihm zugleich auch den Nacken zu durchtrennen. Selbst Valentin war leicht erschüttert. »Er muß so stark wie ein Gorilla gewesen sein«, murmelte er.

Obwohl er an anatomische Untersuchungen gewohnt war, hob Dr. Simon den Kopf nicht ohne Schaudern hoch. Er war an Nacken und Kinn leicht zerschlitzt, aber das Gesicht war im wesentlichen unverletzt. Es war ein massiges gelbes Gesicht, zugleich eingefallen und angeschwollen, mit einer Adlernase und schweren Lidern – das Gesicht eines lasterhaften römischen Kaisers, der vielleicht entfernt einem chinesischen Kaiser glich. Alle Anwesenden schienen es mit dem kalten Auge des Nichtkennens anzublicken. Nichts weiter war an dem Mann zu bemerken, außer daß man, als der Körper aufgehoben wurde, darunter den weißen Schimmer der Hemdenbrust gesehen hatte, verunstaltet durch den roten Schimmer von Blut. Wie Dr. Simon sagte, hatte der Mann ihrer Gesellschaft nie angehört. Doch mochte er sehr wohl versucht haben, sich ihr anzuschließen, denn er war für eine solche Gelegenheit gekleidet gekommen.

Valentin ließ sich auf Hände und Knie nieder und untersuchte mit der größten professionellen Aufmerksamkeit Gras und Grund über einige 20 Meter rund um den Körper, wobei ihn der Doktor weniger geschickt und der englische Lord reichlich oberflächlich unterstützten. Nichts belohnte ihre Suche außer einigen Zweigen, die in sehr kleine Stücke zerbrochen oder zerhackt waren. Valentin hob sie für einen kurzen Augenblick zur Untersuchung auf und warf sie dann wieder nieder.