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«Was trinkst du um diese Zeit?«, fragt Sandrine, während sie ein paar Schranktüren öffnet und wieder schließt.»Kaffee oder Alkohol?«

«Wenn du Wein hast.«

«Rate«, sagt sie nur.

Von einem Cover von Paris Match blickt ihm das triumphierende Gesicht des Präsidenten entgegen. Sandrine hat nie viel von der funktionalen Trennung von Zimmern gehalten oder unterlässt es jedenfalls, ihre Arbeit an einen bestimmten Ort zu bannen. Gelbe Zettel mit Literaturhinweisen kleben auf der Anrichte und dem Türrahmen. Einen Moment lang gibt es nichts zu sagen. Seit Jahren hat er immer mal wieder daran gedacht, sie zu besuchen, jetzt bleibt er mit dem Sakko über dem Arm in der Küchentür stehen. Das Innere der Wohnung hat sich kaum verändert, ebenso wenig wie der Duft nach Kaffee und altem Papier, nur die Höhe überrascht ihn: die schwebende Draufsicht auf Häuser, Parks und Boulevards.

«Wo wohnst du?«Sandrine hat eine Vase gefunden, stellt die Blumen hinein und sucht mit den Augen nach einem freien Platz.

«Rue du Helder, in der Nähe der Oper. Hotel Haussmann.«

«Kenn ich nicht. Warum dort?«

«Ich hab einfach das nächstbeste Hotel gebucht. Ich war hier noch nie in einem.«

«Wenn du dich früher gemeldet hättest… Warum musste es plötzlich so schnell gehen, bist du auf der Flucht? Jahrelang Funkstille und dann: Hallo, morgen bin ich da. Was, wenn ich in den Ferien gewesen wäre?«

Mit der Hand zeigt er auf den Kühlschrank.

«Da ist Platz, oben drauf.«

«Als wüsstest du nicht mehr, wie ich lebe. Hättest du nicht wenigstens einen kleineren Strauß kaufen können?«

Kurz sehen sie einander an, amüsiert angesichts der Unhandlichkeit des Moments. Zwischen jetzt und der nächsten Gemeinsamkeit liegen die Jahre, in denen sie getan haben, was Sandrine beim letzten Mal ›the right thing‹ nannte. Sie wendet sich zur Spüle und dreht den Wasserhahn auf. Was seine Nervosität so rasch gedämpft hat, ist ein beinahe angenehmer Anflug von Enttäuschung. Den ganzen Tag über war es, als stünde ihm ein Abenteuer bevor, nun wandern seine Blumen auf den Kühlschrank, weil sonst nirgendwo Platz ist. Gut so, denkt er. Vielleicht hat er sich gestern ins Auto gesetzt, um desillusioniert zu werden. Noch einmal und anders.

«Es ist nicht leicht, richtig?«, sagt Sandrine über die Schulter.»Das hier.«

«Nur am Anfang nicht.«

Sie muss sich strecken, um die volle Vase abzustellen, und Hartmut stellt fest, dass sie hager geworden ist. Die zurückfallenden Ärmel machen Unterarme sichtbar, die nach regelmäßiger Bewegung im Freien aussehen, aber der Gesamteindruck ist der eines geschwächten Körpers. Einen richtigen Hintern hat sie nie gehabt, nun weist etwas in ihrer Physis voraus auf die alte Dame, die sie in nicht allzu ferner Zukunft sein wird.

«Hör auf, mich zu mustern«, sagt sie, ohne sich umzudrehen.»Ich war im Frühjahr krank und bin noch nicht wieder die Alte.«

«Krank?«

«Nichts, worüber wir reden müssten. Wenn du also weggelaufen bist — wovor?«

«Das hab ich nicht gesagt. Wahrscheinlich bin ich eher auf der Suche. Musst du mich gleich in die Mangel nehmen? Ich bin gerade angekommen. Wir haben uns lange nicht gesehen. Hallo.«

«Auf der Suche wonach?«

«… vielen Dingen. Der richtigen Entscheidung über meine Zukunft. Abstand von meinem Bonner Leben. Vielleicht nach mir selbst?«

«Nach dir selbst, viel Glück. Du bist hoffentlich nicht gekommen, um mich mit Plattitüden zu langweilen. Abgesehen davon, dass ich nicht wüsste, warum du dich ausgerechnet in Paris suchen solltest. Du wurdest hier seit Ewigkeiten nicht gesehen.«

«Du hast dich kaum verändert, wirklich«, sagt er.»Erinnerst du dich noch, was eine Kratzbürste ist?«

«Weißt du noch, was mauvaise foi bedeutet?«Sandrine stemmt die Hände in die Hüften und neigt den Kopf zur Seite, bevor sie lachend abwinkt. Ihr Blick ruft einen Gedanken während der gestrigen Autofahrt zurück: dass er seit Monaten — vielleicht seit zwei Jahren — im Zustand einer ständigen Übertreibung lebt. Gestern Mittag ist ihm das Wegfahren aus Bonn wie ein Akt der Befreiung erschienen. Rein nach Belgien, raus aus Belgien, lauter unmerkliche Übergänge und die langsamen Wechsel der Landschaft. Er hätte früher herkommen sollen, statt bloß mit dem Gedanken zu spielen und dadurch das Wiedersehen aufzuladen mit unrealistischen Erwartungen. Eine überflüssige Übertreibung auch das.

«Mit wem sollte ich sonst reden?«, fragt er. Es ist ungewohnt und tut trotzdem gut, Englisch zu sprechen. Die Sprache ihrer früheren Vertrautheit.

«Keine Ahnung, Schopenhauer. Reden worüber? Deine E-Mail klang, als würden wir einander jede Woche schreiben und sollten mal wieder für einen kleinen Plausch zusammenkommen. Hab ich was verpasst?«

«Es war spät Montagnacht, und ich hatte einiges getrunken.«

«Du siehst nicht gut aus, wenn ich das sagen darf. «Mit ernstem Gesicht macht sie einen Schritt auf ihn zu und fährt mit der Hand über seine Wange. Weniger eine zärtliche Geste als ein Test, ein vorsichtiges Austarieren von Nähe und Distanz. Ihr konzentrierter Blick registriert, was ihm auch schon aufgefallen ist: die Rötungen unter den Augen und entlang der Nasenflügel. Den letzten Gesundheitscheck hat er ausfallen lassen, vorgeblich aus Zeitmangel.

«Sei ehrlich«, sagt sie.»Trinkst du?«

«Mehr als früher jedenfalls.«

«Job oder Familie?«

«Beides.«

«Aber du bist noch verheiratet?«

«Weniger als früher. Eigentlich nur am Wochenende, aber ja, natürlich. Ich bin noch verheiratet.«

Sie nickt und fährt fort mit ihrer Musterung. So dicht vor seinem Gesicht, dass er schielen müsste, um ihrem Blick zu folgen. Es gibt etwas, das Maria und Sandrine gemeinsam haben und wofür ihm kein passendes Wort einfällt. Die Formulierung ›weniger als früher‹ wurde registriert und für zu leicht befunden. Wer dergleichen sagt, hat entweder den Ernst der Lage nicht erkannt, oder die Lage ist nicht ernst, und er führt etwas anderes im Schilde. Begegnet sind sich beide Frauen lediglich in seiner Phantasie und sind dabei zwar respektvoll, aber ohne echte Sympathie miteinander umgegangen.

«Und hier bist du«, sagt sie leise.

«Es tut gut, dich zu sehen.«

«Hast du schon gesagt. «Ein Lächeln will über ihr Gesicht ziehen, und nach kurzem Zögern lässt sie es geschehen.»Ich hab lange überlegt, ob ich überhaupt antworten soll auf deine merkwürdige Mail. Du wirst es nicht gerne hören, aber ich war zuerst verärgert. Nicht dass die paar Jahre eine Rolle spielen, aber so zu tun, als wären sie nicht gewesen?«

«Verlangst du nach einer Erklärung?«

Sie schüttelt den Kopf.

«Gehen wir rüber und machen den Wein auf. Oder soll ich Kräutertee kochen, um deine Leber zu schonen?«

«Sei nicht kindisch«, erwidert er so schroff wie möglich.

Durch die halb offene Tür wirft er einen Blick in ihr Schlafzimmer, bevor er den größten Raum des Apartments betritt, den als Wohnzimmer zu bezeichnen irreführend wäre. Zwar gibt es ein Zweiersofa und einen alten Korbsessel, aber der kniehohe Tisch dient vorrangig als Ablage. Lückenlos bedeckt von Büchern, Zeitschriften und losen Blättern, von alten Fotos und aufgerissenen Briefumschlägen. Sandrines Computer steht auf einem Sekretär zwischen schmalen hohen Gaubenfenstern. Verschleiert von einer feinen Staubschicht glotzt Hartmut das konvexe Auge eines Bildschirms entgegen, den Philippa ›antik‹ nennen würde.

«Kann ich dir helfen?«, ruft er, als in der Küche ein Weinkorken ploppt.

«Schaff Platz für ein Tablett.«

«Ich will deine Sachen nicht durcheinanderbringen. Ich weiß, dass hinter dem Chaos eine versteckte Ordnung waltet.«

«Schön wär’s. «Mit vollen Händen kommt sie zur Tür herein. In den weiten Kleidern hat sie etwas Feenhaftes, das ihm weniger gut gefällt als früher ihr Hippie-Look.»Das war eine Schutzbehauptung, die ich inzwischen aufgeben musste. Versuch einfach, eine ebene Unterlage zu schaffen.«