Выбрать главу

«Okay. «Er macht sich an die Arbeit, und Sandrine wartet im Stehen darauf, dass seine Umschichtung zum gewünschten Ergebnis führt. Ein Foto zeigt zwei missmutig dreinblickende junge Leute, in denen er erst beim zweiten Hinsehen Sandrine und sich selbst erkennt. Nebeneinander gegen ein Geländer gelehnt vor unscharf grünem Hintergrund. Auch Briefe in seiner Handschrift liegen auf dem Tisch. Mit den Augen fährt Hartmut über die Hausarbeit eines Studenten namens Mathieu Dubost und den prätentiösen Briefkopf einer baltischen Gesellschaft für Anthropologie. Sieht aus wie ein altes Adelswappen.

Schließlich kann Sandrine sich das Lachen nicht verkneifen.

«Hartmut, einfach irgendwie stapeln.«

«Es soll stabil sein, oder?«

«Nicht im Sinne von: für die Ewigkeit. Erinnerst du dich, wir suchen nach einem Platz für das Tablett.«

«Lenk mich nicht ab. Ich arbeite.«

«Du bist genau wie früher!«Sie ruft das mit einer überdrehten Begeisterung, die ihn überrascht innehalten lässt.»Brauchst du Werkzeug? Ich hab einen Hammer.«

«Eile mit Weile«, erwidert er auf Deutsch. Vielleicht erinnert sie sich an diese Maxime aus der aphoristischen Hausapotheke seines Vaters.

Vor dem Tisch kniend, beginnt er damit, einzelne DIN-A4-Blätter auf zwei Stapel zu verteilen, bis Sandrine das Tablett auf den Boden stellt, sich neben ihn setzt und mit beiden Händen sein Gesicht umfasst. Was sich am wenigsten verändert hat, sind ihre Augen. Blaugrau und in diesem Moment an den Rändern feucht schimmernd.

«Ich weiß nicht mal genau, wie viele Jahre es her ist. «Mit den Fingerspitzen fährt sie über seine Wangen. Wie Blinde lesen.»Warum?«

«Keine Ahnung. Ich hab oft an dich gedacht.«

«Lügner. Wir beide wissen warum, aber wir sind keine Kinder mehr.«

«Genau das hab ich mir auch gesagt.«

Vielleicht wäre es der richtige Moment für einen Kuss, aber es ist die falsche Zeit. Sandrine lehnt sich gegen den Korbsessel, schenkt Wein ein und reicht ihm sein Glas.

«Auf uns«, sagt er.»Es war höchste Zeit.«

«Was auch immer das heißt.«

Die Briefe auf dem Tisch sind versehen mit antiquiert aussehenden deutschen Marken. Seine damalige Handschrift ist nach rechts geneigt, als zögen die Buchstaben schwere Lasten hinter sich her. Auf einem der Umschläge prangt ein schwarzer, halb verblichener Stempeclass="underline" Post — damit wir uns besser verstehen. Insgesamt ein Dutzend Briefe, schätzt er und zeigt mit dem Kinn darauf.

«Hast du dich vorbereitet auf meinen Besuch?«

«Du hast mir nicht viel Zeit gelassen. Beim Lesen ist mir eingefallen, wie du in Minneapolis alle Briefe auf Matrize geschrieben und die Durchschläge aufbewahrt hast. Als würdest du davon ausgehen, dass irgendwann deine gesammelte Korrespondenz publiziert wird. «Sandrine zeigt ihrerseits auf den Tisch.»Hast du von denen auch Abzüge?«

«Bestimmt.«

«Warum? Falls du eines Tages nach dir selbst suchen musst?«

«Oder nach jemand anderem. «Sobald er das Weinglas abstellt, warten seine Hände auf Beschäftigung.

«Ich habe immer noch diese Karteikarte vor Augen, ganz oben auf einem großen Stapeclass="underline" ›Take care, man‹. Die Übersetzung hab ich vergessen, aber bestimmt war sie sehr akkurat. «Die Erinnerung bringt Sandrine zum Lachen.»Du hast alles aufgeschrieben. Am Anfang dachte ich, es muss entweder deutscher Ordnungssinn oder ein zwanghafter Zug sein. Ich hab nicht gewusst, dass man sich selbst so systematisch erziehen kann. Offen gestanden bin ich immer noch skeptisch.«

Hartmut nickt. Sandrine gehört zu den wenigen Menschen, die ihn aufziehen dürfen, ohne dass er es ihnen übel nimmt, aber in diesem Moment wünscht er, sie würde nicht direkt ins Zentrum zielen. Da ihm keine Erwiderung einfällt, greift er nach einem Foto auf dem Tisch. Die Aufnahme ist neu und zeigt Sandrine neben einer dunkelhaarigen jungen Frau. Beide stehen im Freien, tragen Sonnenbrille und Kletterausrüstung und halten dem Fotografen einen gestreckten Daumen entgegen. Im Hintergrund leuchtet heller Fels, offenbar Sandstein. Seit wann machst du solche Sportlergesten, will er fragen, aber Sandrine kommt ihm zuvor.

«Meine jüngste Cousine, Virginie. Vor zwei Jahren ist sie nach Paris gezogen und hat mich fürs Klettern begeistert — beziehungsweise: Sie hat mir die Angst davor genommen, danach kam die Begeisterung von alleine. Inzwischen ist sie meine beste Freundin. Wir überlegen sogar zusammenzuziehen.«

Die Cousine ist schlank und kaum größer als Sandrine, mit langen, zum Zopf gebundenen Haaren. Sie trägt ein ärmelloses Trikot, und entweder ist der Fotograf ihr Geliebter, oder sie besitzt eine herausfordernd offenherzige Art im Umgang mit anderen Menschen.

«Sympathisch. «In Sandrines Art, die Geste der Jüngeren zu kopieren, erkennt er eine ironische Überlegenheit, die ihr schon als Studentin eigen war. Tochter eines flamboyanten Lokalpolitikers, der sich dem letzten seiner vielen Schmiergeldprozesse durch Herzstillstand entzogen hat. Manchmal behauptet Sandrine, seine Verschlagenheit geerbt zu haben, aber das gehört zum sparsamen Gebrauch, den sie von Koketterie und Selbststilisierung macht. Auch das eine Ähnlichkeit mit Maria.

«Virginie ist ein Schatz«, verkündet sie und nimmt ihm das Foto aus der Hand.»Das Beste an den letzten beiden Jahren war die Zeit, die ich mit ihr verbracht habe. Wer hätte gedacht, dass ich eines Tages ein Hobby finden würde, das aus körperlicher Anstrengung im Freien besteht. Oder eine Freundin, die meine Tochter sein könnte.«

«Wenn ich mich richtig erinnere, bist du nicht mal schwindelfrei.«

«Ich übe«, sagt sie.»Meine Freundinnen fiebern den Wochenenden entgegen, wenn die Kinder oder die Enkel kommen, und ich freue mich darauf, mit Virginie in die Berge zu fahren. Das ist meine Erholung. Findest du nicht, dass junge Leute heutzutage bemerkenswert gesund sind? Einen gesunden Optimismus besitzen, eine gesunde Portion Nachdenklichkeit. Ich glaube, wir waren nie so, als Generation.«

«Ich weiß, dass ich nicht so war.«

Sandrine schüttelt den Kopf, als hätte er ihr widersprochen.

«Erst waren wir naiv, dann entweder verbittert oder selbstgerecht. Jetzt sind wir gleichgültig. Seit ich Virginie kenne, langweilen mich die Abendessen mit Freunden immer mehr. Dieselben Themen, derselbe Ton, abgeklärt und leidenschaftslos. Wir wissen alles besser, aber nur besser als früher, und das heißt gar nichts. «Obwohl sie erst ein halbes Glas getrunken hat, lauert in ihrem Blick die Bereitschaft zu einer aggressiven Litanei, von der Hartmut sie gerne abhalten würde. Zu gut erinnert er sich an ihre Tiraden im Auto, über amerikanischen Rassismus, Bürgerrechte und die Frage, welche Formen von Religiosität mit dem Ausdruck Zivilisation vereinbar sind. Abgeklärt und leidenschaftslos war Sandrine Baubion nie, das ist eine Qualität ihres Charakters, die zu würdigen nicht immer leichtfällt.

«Nichts gegen deine Cousine, aber da ich beruflich mit der jungen Generation zu tun habe…«

«Ich weiß. In Wirklichkeit sind sie angepasst, oberflächlich und karriereorientiert. Ich werde mich nicht darüber beklagen. Wir haben Mao Zedong verehrt.«

«Ich nicht.«

«Du natürlich nicht. Du bist zu Kundgebungen von Hubert Humphrey gefahren.«

Ein Mal hat er das getan, im Herbst 76, als Humphrey für den Senat kandidierte. Kürzlich hat er darüber nachgedacht und festgestellt: Er besitzt eine Schwäche für uncharismatische Politiker. Obwohl er zeitlebens SPD gewählt hat, kann er mit Angela Merkel gut leben. Charisma verführt den Besitzer zur Unaufrichtigkeit und lässt alle anderen darüber hinwegsehen. Eine Einladung zum Missbrauch im beiderseitigen Einvernehmen.

«Wenn ich gewusst hätte, wie lange du dich darüber mokieren würdest«, sagt er,»wäre ich zu Hause geblieben.«

«Du hast kein Haschisch geraucht und nicht getrunken. Warst kein Marxist und gegen jede Form politischer Gewalt. Die Liste deiner Jugendsünden würde einen Mormonen zum Lächeln bringen.«