«Die jungen Leute von heute nennst du gesund. Aber mich?«
«Dein größtes Laster waren English Muffins. Ist das immer noch so?«
«Ich beginne zu verstehen, warum ich so lange nicht hier war. Warum bist du jetzt gemein zu mir? Was hab ich getan?«
«Du warst ein komischer Vogel mit deinen hässlichen Hemden und dem deutschen Akzent, und ich wollte nichts an dir verändern. Gar nichts. Es ist mir erst später aufgegangen, wie selten das ist. «Sie sieht ihn an und legt den aggressiven Tonfall ebenso schnell ab, wie sie ihn angenommen hatte.»Genau genommen war es einmalig, also beschwer dich nicht. Du schreibst eine betrunkene Mail, und ich fange an, in alten Briefen zu lesen. Ich hab mir vorgenommen, ein bisschen gemein zu sein. Es geschieht mit Absicht.«
«Okay.«
Ein paar Mal nickt sie still vor sich hin. Leert ihr Glas und stellt es auf den Tisch. Das Foto der Cousine wandert zurück zu den anderen Bildern.
«Letzten Monat ist Carson Becker gestorben«, sagt sie.
«Letzten Monat erst?«
«Genau was ich gedacht habe. Ich bin zufällig auf die Nachricht gestoßen. Wollte einen alten Text von ihm zitieren — um ihn zu kritisieren, natürlich —, und als ich im Internet nachgeschaut habe, fiel mir der Nachruf ins Auge. Sehr kurz, eher eine Notiz. Er muss fast hundert Jahre alt geworden sein. Kannst du dir einen überzeugenderen Beweis für seine Selbstgerechtigkeit denken? Hundert Jahre!«
«Hast du ihn trotzdem zitiert?«
«Ja. Aber zustimmend. «Zum ersten Mal seit seiner Ankunft lacht sie so fröhlich wie früher. Jahrelang haben Professor Becker und sie im Clinch gelegen, weil Sandrine sich in den Kopf gesetzt hatte, in ihrer Doktorarbeit Lynchjustiz als eine primitive Ritualform zu untersuchen. Damals ein gewagter Ansatz, von dem ihr Betreuer nichts wissen wollte. Ein stoischer weißhaariger Mann aus Montana, der auf die Siebzig zuging und ungerührt zur Kenntnis nahm, dass seine Studentin ihn für borniert hielt. Er fand das Thema ungeeignet und witterte in Sandrines Haltung den typischen französischen Kulturchauvinismus. Mit Beckers Namen kehrt die Erinnerung an einen Nachmittag kurz vor Hartmuts Abflug zurück. Sandrine berichtete empört, ihr Professor habe angeregt, sie solle lieber eine theoretische Arbeit schreiben, über die methodischen Probleme einer Ethnologie des Eigenen. Ihre Empörung wurzelte in Beckers stillschweigender Unterstellung, sie, Sandrine Baubion, könnte über einen Begriff des Eigenen verfügen, der die blutrünstigen Normalbürger von Mississippi und Kentucky mit einschloss. Das hatte sie in aller Deutlichkeit verneint und ihre Entrüstung auf Hartmut gerichtet, weil der Beckers Entgegnung zum Lachen fand: How about Louisiana, then? Am Ende führte der fruchtlose Streit dazu, dass sie von Minneapolis an die Ostküste zog, wo ein College seinem liberalen Ruf gerecht wurde und Sandrine machen durfte, was sie wollte.
«Das Leben ist seltsam«, sagt sie und scheint einem ähnlichen Gedanken zu folgen wie er.»Ich wollte dem alten Knacker nicht recht geben. Koste es, was es wolle. Am Ende hat es mich über drei Jahre gekostet.«
«Und mich.«
«Stimmt. Sonst wäre ich heute von dir geschieden statt von George. «Sie klatscht in die Hände und freut sich über die böse Bemerkung. Einige der Briefe auf dem Tisch beinhalten flehende Petitionen, in denen er vergebens seine Liebe, ihre Vernunft und allerlei andere Dinge beschwört, die Sandrine ihrem angeborenen Stolz unterordnete. Ehrgeiz im eigentlichen Sinn hat sie nie besessen. Nie des Geldes wegen gearbeitet; in ihrer Familie war Geld immer vorhanden, zusammen mit einem Ferienhaus im Luberon, dem Kindermädchen Bernadette und den neurotischen Eltern, die nur am Tisch miteinander sprachen.
Sie rückt ein Stück näher an ihn heran und legt den Kopf an seine Schulter.
«Hast du geglaubt, dass es so sein würde? Heute.«
«Allenfalls hatte ich gehofft, du würdest weniger auf mir rumhacken.«
«Ich hatte Angst, dass es sich überflüssig anfühlen könnte. Ein Wiedersehen nach so vielen Jahren. All der emotionale Aufwand, nur um gemeinsam alte Erinnerungen aufzuwärmen. Wozu?«
«Du kannst zwar gemein sein, aber berechnend bist du nicht. Das hast du bestimmt nicht gedacht.«
«Was macht dich so sicher?«
«Nichts. Ich glaube es nicht.«
«Trotzdem stimmt es. Ich war nahe dran, dir abzusagen.«
Als Hartmut ihr einen zweifelnden Blick zuwirft, will sie von ihm wegrücken, aber er legt einen Arm um ihre Schulter und hält sie fest. Sandrine faltet die Hände im Schoß, bevor sie weiterspricht.
«Ich wollte nicht davon anfangen, aber wenn du unbedingt darauf bestehst. Hör mir zu, und mach kein betroffenes Gesicht. Okay? Ich meine es ernst.«
«Ich höre dir zu.«
«Es besteht kein Grund zur Betroffenheit, ich bin wieder völlig gesund, wie vorher. Ich kann sogar klettern, auch wenn die Ärzte das für riskant halten. «Sie scheint sich in Ruhe die nächsten Sätze zurechtzulegen, und Hartmut schickt einen Blick durch den Raum. Neben seinen Füßen liegt ein mit Lesezeichen gespicktes Buch, dessen Cover zwei Männer vor der offenen Fahrertür eines Autos zeigt. Ein Weißer im dunklen Anzug und ein Schwarzer, der die weiße Arbeitsjacke eines Kochs oder Friseurs trägt. Vielleicht ist er der Chauffeur. Beide schauen mit ernsten Mienen am Fotografen vorbei, als wären sie durch jenes namenlose Verhängnis verbunden, von dem Faulkner geschrieben hat. There Goes My Everything — White Southerners in the Age of Civil Rights heißt der Titel. Offenbar interessiert Sandrine sich immer noch für ihr altes Thema.
«Letzten Winter«, sagt sie und zeigt auf das Buch,»hatte ich einen Lehrauftrag in Nanterre. Ein Mal in der Woche ein Seminar, immer Donnerstagnachmittag. Schwarz und Weiß in Amerika. Ein Thema, das unter meinen Bekannten ein derart sorgsam verstecktes Desinteresse hervorruft, dass ich alleine deswegen immer wieder davon anfangen muss. Es gibt nichts Demaskierenderes als die Maske selbst. Übrigens ein Satz vom alten Carson Becker.«
Hartmut lehnt sich gegen die Sitzfläche des Sofas und ist froh, dass Sandrine die Umarmung nicht löst, um zu erzählen.
«Letzten Winter also«, sagt er.
«Wir saßen im Seminar und haben über einen Text gesprochen. Das heißt, ich hab eine Passage vorgelesen, auf Englisch, und sie grob übersetzt. Es ging um McClung versus Katzenbach, wenn du dich erinnerst. Um präzise zu sein, hatte ich mir mehr Notizen gemacht als sonst. An einem Punkt hab ich aufgeschaut in die Reihe der Gesichter. Wollte sehen, ob alle wach sind. Zwei Fenster standen offen, von draußen kam Baulärm herein. Alles ganz normal, ein sonniger Tag und das mittlere Aufmerksamkeitsniveau, an das ich mich inzwischen gewöhnt habe. Ich dachte: So, dann weiter im Text. Die Argumentation vor dem Berufungsgericht. Aber ich konnte nicht sprechen. Ich weiß immer noch nicht, wie ich es beschreiben soll. Von einem Moment auf den anderen war alles weg. Kein Wort mehr, kein Satz, keine Sprache. Ich war wach und bei Sinnen, und es hat nicht weh getan. Im Grunde wusste ich sogar, was ich sagen wollte. Bloß hatte dieses Etwas keine Form. Als ich auf den Zettel geschaut habe, standen dort Wörter in meiner Handschrift, aber auch nur ein einziges davon vorzulesen kam mir vor wie eine Herkulesaufgabe. Wo anfangen? Die Studenten wurden unruhig; alle haben mich angesehen und miteinander getuschelt. Später hab ich gehört, wie eine Studentin zu den Sanitätern sagte: Sie hat fast zwei Minuten stumm vor sich hin gestarrt. Und ich dachte: Zwei Minuten, was für ein Quatsch! Ich musste mich doch nur für ein paar Sekunden sammeln. Gleichzeitig wusste ich, dass ich einen komischen Eindruck mache, also wollte ich mich entschuldigen. Ging aber auch nicht. Stattdessen hab ich mich brabbeln gehört! Unverständliche Laute, die aus meinem Mund kamen. Was soll der Blödsinn, dachte ich. Ich war nicht schockiert, sondern verärgert. Dann hat jemand sein Handy aus der Tasche gezogen und begonnen zu telefonieren. Das hat mich so was von empört. Jetzt machen die, was sie wollen! Aber ich konnte nichts sagen. Die Welt stand mir vor Augen wie immer, und ich war eingeschlossen in mir selbst. Obwohl ich denken konnte, vielleicht sogar präziser und kleinteiliger als normal, aber ohne Ordnung. Das merkwürdigste Gefühl. Übrigens hab ich mich wirklich auf deinen Besuch vorbereitet. Hab ein paar Begriffe nachgeschlagen, weil ich genau wusste, früher oder später muss ich dir die Geschichte doch erzählen. Irgendwo auf dem Tisch liegt mein Spickzettel. «Sie beugt sich nach vorne, um danach zu suchen.»Je älter ich werde, desto mehr ähnele ich dir. Geheuer ist mir das nicht.«