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Am Nachmittag hatte er nachgedacht über den Punkt, wenn ihm alles egal sein und er sich einfach gehen lassen würde. Jetzt ließ Katharina die Hände über seinen Rücken wandern, so wie es Maria beim Abschied auf dem Hackeschen Markt getan hatte. Es war eine stille Sommernacht, in der er neben sich stand und den älteren Mann beobachtete, der geglaubt hatte, er könne mit einer jungen Frau Sex haben in diesem dunklen Hinterhof. Sein eigenes Tun, erlebt wie das Wirken einer anderen Kraft. Über Wochen und Monate hatte er gespürt, wie die Frustration in ihm zunahm, aber anstatt sich Bahn zu brechen, war alles in diesem einen kurzen Moment verpufft. Im Grunde ist gar nichts passiert, dachte er verwundert.

«Ich kann das nicht. «Katharinas Kopf lag auf seiner Brust, als stünden sie schon lange in regloser Umarmung. Als wäre ihre Handtasche aus Versehen zu Boden gefallen und die Kleidung hätte der Wind zerzaust.»Mit einem verheirateten Mann.«

Am liebsten hätte er gesagt, dass er keine Erklärung brauchte. In Gedanken verfolgte er den anderen Weg bis zu all dem, was ihm nun erspart bleiben würde: die Verlegenheit, die gestammelten Anklagen und Rechtfertigungen, die ganze verkrampfte Kasuistik des Morgens danach. Stattdessen ein paar Sachen packen und wegfahren, gleich morgen früh. Aus offenen Küchenfenstern drangen Stimmen und das Klappern von Geschirr. Hinter dem Parkplatz hielten Bäume ihre Äste still und wisperten durch die Blätter.

«Ich kenne es von beiden Seiten«, sagte sie leise.»Es war seine Art, sich über die berufliche Demütigung hinwegzutrösten. Und meine, mich an ihm zu rächen. Das Ende ist bekannt.«

Hartmut legte seine Arme um ihre Schultern. Es tat gut, nicht angreifbar zu sein durch das, was sie sagte. Die Verantwortung lag anderswo. Als wollte sie das bestätigen, hob Katharina den Kopf und zögerte nur kurz, bevor sie ihn küsste. Die Übertretung lag hinter ihnen, der Weg nach vorne war versperrt, aber im Hier und Jetzt, zwischen den Autos auf dem nächtlichen Parkplatz, waren sie frei zu tun, was sie wollten. Von der Straße hörte er fröhliche Stimmen und Schritte, die sich zum Glück schnell wieder entfernten.

«Danach hab ich mir geschworen, es nicht mehr zu tun. Weder die Betrogene zu sein noch die Betrügende. Auch nicht die an einer fremden Ehefrau.«

«Das ist…«Er musste sich zwei Mal räuspern, bevor er weitersprechen konnte.»Sehr nobel von dir. «Was sollte er sonst sagen?

Ein letztes Mal fuhren seine Hände über ihren Rücken, ertasteten feineren Stoff und die beginnende Rundung ihres Pos. Die Lust war noch da, das eingesperrte Tier, dessen Bedürfnisse nicht mehr zählten. Dann ließ er sie los und sagte:»Ich fahr dich nach Hause.«

Jeder für sich richteten sie ihre Kleidung und stiegen ein. Auf der Rückbank lagen zerfledderte Comic-Hefte. Hartmut fuhr den Sitz nach hinten und justierte den Rückspiegel. Trat die Kupplung, schaltete probehalber einmal durch und war Katharina dankbar, dass sie keine Stille aufkommen ließ.

«Als ich davon erfahren habe, war ich völlig zerstört. Obwohl ich es hätte wissen können. Wahrscheinlich wollte ich ihn für stärker halten, als er ist. Weshalb er sich stärker geben musste, als er war, bloß auf die falsche Weise. Erst jetzt, bei unseren kleinlichen Streitereien, wird mir klar, wie wenig er dem Bild entspricht, das ich mir von ihm gemacht hatte.«

«Er hat dich betrogen, zuerst. Warum wollen Frauen immer glauben, dass es ihre eigene Schuld ist?«, fragte Hartmut, als sie vom Parkplatz rollten. Obwohl er einiges getrunken hatte, spürte er nichts mehr davon. Stattdessen erreichte ihn die Vorhut seines schlechten Gewissens, ein kleiner Erkundungstrupp, der das Gelände sondierte, auf dem sich morgen die ganze Mannschaft breitmachen würde.

«In einem Punkt verfüge ich über mehr Lebenserfahrung als du«, sagte Katharina ein wenig kühler als zuvor.»Auch wenn Scheidungen wahrlich keine Seltenheit mehr sind — wer es nicht kennt, versteht die Desillusionierung nicht, die damit einhergeht. Alle sind Zeugen. Die Familien, die Freunde, allen muss man’s erklären, und selbst wenn man das kann, bleibt das Gefühl, auf ganzer Linie gescheitert zu sein. Unseren Sohn gibt es, weil wir einander geliebt haben, und jetzt lebt er abwechselnd bei zwei Menschen, die kleinlich um Besuchszeiten feilschen. Was hab ich damit gewonnen zu sagen: Er hat angefangen?«

«Wahrscheinlich hast du recht. «Hartmut steuerte den Wagen über die Kennedybrücke, dann die verwaiste Adenauerallee entlang. Angestrengt blickte er auf Tachometer und Straße und bog kurz hinterm Bundesrechnungshof ab in die Südstadt. Bei jedem Schalten ging ein Ruck durch den Wagen, und jedes Mal schluckte Hartmut die Entschuldigung hinunter, die ihm auf der Zunge lag. Einmal hielt neben ihnen ein Polizeiauto an der Ampel, und sie beide schauten verkrampft geradeaus, bis es grün wurde. Das Gespräch verebbte. Als sie um halb zwölf in der Lessingstraße ankamen, wurden in einer Eckkneipe die Stühle hochgestellt. Schöne Altbauten und hohe Linden zu beiden Seiten. Katharina dirigierte ihn in die einzige freie Parkbucht, die für sie reserviert zu sein schien, auch wenn er kein Schild sah. Nicht weit von hier, oben im Bonner Talweg, hatten Maria, Philippa und er in den ersten Jahren gewohnt. Ein junges Paar mit kleinem Kind. Jetzt fiel ihm auf, dass er lange nicht mehr in der Südstadt gewesen war und die Gegend als weniger bürgerlich in Erinnerung behalten hatte.

«Bist du mir böse?«, fragte Katharina, als er den Motor abstellte.

«Überhaupt nicht. Es ist besser so.«

«Ich hätte es dir früher sagen sollen. Früher sagen müssen, und das wollte ich auch. Bloß ist es mir noch nie so schwer gefallen. Wenn man alleine lebt, fragt man sich, wozu Prinzipientreue gut sein soll. Außer dass sie das Alleinsein verlängert.«

Wir schulden einander nichts, wollte er sagen und schüttelte den Kopf. Es war bereits etwas falsch an der Art, wie sie jetzt versuchten, alles richtig zu machen, nicht enttäuscht oder gekränkt zu sein, weder Scham noch Reue zu empfinden. Machen wir uns nichts vor, dachte er grimmig, Prinzipientreue ist die Tofuwurst unter den Tugenden. Fleischlos und fade. Stattdessen sagte er lahm:»Ich halte es mir zugute, dass die Anziehung stärker war.«

«Okay.«

In Gedanken legte er beide Hände auf ihre Brüste. In Wirklichkeit verließen sie den Wagen und gingen zum Eingang ihres Hauses. Die letzten Körnchen rieselten durch den Hals der Sanduhr, dann erreichten sie die Tür, und er übergab den Autoschlüssel, wie eine symbolische Kapitulation.

«Na dann. «Mit zerwühlten Haaren stand Katharina vor ihm, und Hartmut steckte die Hände in die Taschen. Nebenan praktizierte das Analytische Gestalt-Institut, an den Zaun des kleinen Vorgartens waren Fahrräder gekettet.

«Balkonien«, sagte er und wies mit dem Kinn aufwärts.»Welcher ist es?«

«Dritter Stock. Wegen der Beurlaubung werde ich mich erkundigen und dir Bescheid geben. «Katharina hielt den Schlüssel in beiden Handflächen wie einen aus dem Nest gefallenen Vogel.»Es ist wegen deiner Frau, richtig?«

«Ja«, sagte er ohne Widerwillen. Entweder riet sie oder konnte es spüren, oder sie hatte an der Uni den üblichen Tratsch aufgeschnappt.»Vor allem ist es kompliziert. Aus vielen Gründen, nicht nur wegen meiner Verpflichtungen hier. Vielleicht reden wir darüber ein andermal.«

«Okay. Tun wir das.«

Mit dem letzten Kuss sagten sie einander gute Nacht, dann konnte er nur noch Bedauern lesen aus der Art ihres Gangs und dem kurzen Gefecht mit dem Türschloss. Er sah ihren Schemen im Flur verschwinden und verwarf den Gedanken, ein Taxi zurück nach Beuel zu nehmen. Hinter ihm lag ein langer Tag, und er musste zu Hause ein paar Dinge erledigen, zum Beispiel noch was trinken. Das Auto konnte er morgen holen. Langsam lief er die Lessingstraße hinauf und bog nach rechts ab, auf die Strecke, die er früher zur Uni gefahren war. Vor dem Eingang einer Kneipe verabschiedeten sich junge Leute voneinander, mit Küssen und innigen Umarmungen, als würden sie einander nie wiedersehen. Hartmut ging vorbei und fühlte sich aufgehoben im Gleichgewicht widerstreitender Gefühle. Einsam auf ebenso wohltuende wie schmerzliche Weise. Enttäuscht und erleichtert, aufgekratzt und müde. Als ihn in der Weberstraße ein leeres Taxi überholte, hob er die Hand und sah die Bremslichter aufleuchten. Im Fond empfing ihn der angenehme Geruch von Vanille und Leder. Dazu ein fragender Blick im Rückspiegel.