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«Venusberg, bitte. «Hartmut schloss die Tür und schnallte sich an. Merkwürdig, wie der Entschluss vor ihm stand, ohne gefasst worden zu sein. Sandrine würde sich zwar wundern und zuerst misstrauisch nachfragen, aber wohin sollte er sonst fahren? Das letzte Zusammentreffen lag so viele Jahre zurück, dass ihm nicht auf Anhieb einfiel, wie viele es waren. Sie hatten im Au Relais gegessen, unweit ihrer Wohnung. Eine Mahlzeit in freundschaftlicher, leicht melancholischer Atmosphäre. Gemeinsam hatten sie eine Flasche Wein getrunken und das Gespräch ferngehalten von allem, was ihnen auf dem Herzen lag. Vielleicht dachte er daran, weil er auch damals nicht gewusst hatte, warum sich sein schlechtes Gewissen nur zögerlich einstellte. Als absolvierte es eine lästige Pflichtübung.

«Schöner Abend«, murmelte er vor sich hin.

Nach dem Essen hatte Sandrine ihn zur Métro gebracht, mit vor der Brust verschränkten Armen und so schweigsam, wie sie nur wird, wenn sie traurig ist. An ihrem Haus vorbei, die Rue Lamarck hinunter. Er hatte die Fassade hochgeblickt und sich gefragt, ob er je wieder ihre Wohnung betreten würde. Sieben Jahre lag es zurück, oder acht?

«Sind Sie Professor Hainbach?«Die Frage riss Hartmut aus seinen Gedanken. Automatisch setzte er sich aufrecht hin und hob den Kopf.

«Das… Der bin ich, ja.«

«Sie erinnern sich nicht an mich. Ich hab nur ein Seminar bei Ihnen besucht. Vor zehn Jahren. Wittgenstein. «Das Gesicht, das der Fahrer ihm kurz zuwendete, kam Hartmut nicht bekannt vor. Ein Mann Anfang dreißig, mit randloser Brille und bereits schütterem Haar, dessen Miene auf zufriedene Weise gelangweilt wirkte.

«Sie haben Philosophie studiert?«, fragte Hartmut.

«Architektur. Philosophie war nur ein Hobby.«

«Verstehe. «Er hätte es vorgezogen, in Ruhe seinen Erinnerungen nachzuhängen, aber da er nun mal zu einem ehemaligen Seminarbesucher ins Taxi gestiegen war, versucht er, das Beste aus der Situation zu machen. Den Tractatus hatten sie gelesen, erfuhr er auf Nachfrage. Sein Fahrer hieß Meier. Die Welt ist alles, was der Fall ist, wusste er, das habe ihm seinerzeit zu denken gegeben. Während er den Wagen durch Poppelsdorf lenkte, wo die Kneipen noch belebt waren, sprach Herr Meier in den Rückspiegel wie in eine laufende Kamera. Im Grunde so etwas wie ein Gestrüpp aus Tatbeständen, auch wenn Wittgenstein es anders ausgedrückt habe. Der Versuch, das in eine endliche Zahl von Sätzen zu fassen, sei allerdings hoffnungslos. Genial und auf seine Weise heroisch, aber undurchführbar. Habe Wittgenstein wohl später selbst eingesehen. Das Gesicht im Rückspiegel schien auf eine Beurteilung zu warten.

«Jetzt sind Sie Architekt?«, fragte Hartmut.

«Mehr oder weniger. «Zurzeit keine feste Anstellung, seine Freundin sei schwanger und die Jobaussichten —»nun ja, wir alle lesen Zeitung«. Wie zum Beweis lag der Generalanzeiger aufgeschlagen auf dem Beifahrersitz. Was auf dem amerikanischen Immobilienmarkt geschehe, werde auch hier nicht folgenlos bleiben, sagte er. Hartmut hörte mit einem Ohr zu und wunderte sich, dass er heute bereits die zweite Unterhaltung dieser Art führte; die erste am Nachmittag mit Charles Lin, der vermutlich gerade Rilke las und von seinem Fahrer sagen würde, er habe eine sehr erfahrene geistige Stufe. Herr Meier griff in eine Tüte mit Salzgebäck neben der Handbremse und schien zu überlegen, ob er dem Fahrgast davon anbieten sollte.

«Wenn man erst mal Kinder hat«, sagte er kauend,»ändert sich vieles. Richtig?«

«Bei mir war es so. «Kurz erwog und verwarf Hartmut den Gedanken, den Witz mit den drei Geistlichen zu erzählen. Die Kneipen in der Clemens-August-Straße hatten sie hinter sich gelassen und hielten an einer roten Ampel. Hartmuts Blick fiel auf leere Bürgersteige und dunkle Schaufenster. Das Papiergeschäft an der Kreuzung stellte Utensilien für Schulanfänger aus. Philippa hatte eine blaue Schultüte gehabt, mit der silbernen Aufschrift ›Mein erster Schultag‹. Schwer zu sagen, warum ihm das jetzt einfiel, oder warum dieser Moment — der Anblick eines nächtlichen Schaufensters, das hinter ihnen zurückblieb, als die Ampel auf Grün schaltete — wie die Summe von vielen anderen erschien, die ihm vorangegangen waren. Zu was schließlich summieren sich Momente? Vielleicht sollte er mal wieder ein Seminar zu einem aus der Mode gekommenen Buch wie dem Tractatus anbieten. Darin wurde viel von Bestandteilen geredet, die sich zusammensetzten zu etwas, das so nicht erklärbar ist. Wann immer Hartmut sein zerlesenes Exemplar zur Hand nahm, sah er Stan Hurwitz vor der Tafel auf und ab gehen, gepackt von einer Erregung, die sich allmählich auf die Zuhörer übertrug. Lauter zweifelhafte Sätze, sachlich kühl und mystisch tief. 1.21 Eines kann der Fall sein oder nicht der Fall sein und alles übrige gleich bleiben. Konnte es das wirklich, oder war es im Gegenteil so, dass alles anders wurde, wenn eins sich änderte? Schließlich ging es um einen Zusammenhang, kein Kompositum.

«Als meine Freundin mir gesagt hat, dass sie schwanger ist…«Herr Meier hatte ein Thema gefunden, das ihn stärker beschäftigte als der frühe Wittgenstein.»Stundenlang lag ich nachts wach und dachte: Oh Gott, und jetzt? Klar hab ich mich gefreut, aber schlafen konnte ich nicht. Wollen Sie’s genau wissen? Seitdem fahre ich wieder Taxi, nachts. Wie als Student.«

Noch einmal begegnete Hartmut Herrn Meiers ausdruckslosem Blick, und mit einem Mal war ihm der Fahrer sympathisch. Die freudige Panik vor dem ersten Kind kannte er gut. Das Gefühl, dass abgenutzte Wörter wie ›Verantwortung‹ eine Bedeutung annahmen, von der er früher nichts geahnt hatte. Als Philippa zu Welt kam, war er ein Privatdozent ohne feste Anstellung und mit unregelmäßigem Einkommen. Wie Katharinas Ex-Mann. Nicht sicher, wovon die Familie im nächsten Jahr leben würde.

«Ich hab damals Tagebuch geführt«, sagte er.»Vorher selten, nachher nie wieder. Aber ein paar Monate lang dachte ich, das will ich festhalten. Die Veränderung. Die sich übrigens nicht festhalten lässt, aber es lohnt den Versuch. «In einer der Boxen im Arbeitszimmer musste es liegen, ein grünes Heft voll hilfloser Reflexionen. Später hatte er nie mehr reingeschaut.

Schweigend fuhren sie die Robert-Koch-Straße hinauf. Seit fünfzehn Jahren tat er das täglich und genoss jedes Mal den sanften Schwung der Kurven. Als würde der Alltag von ihm abfallen, auch wenn ihn seit zwei Jahren nur ein leeres Haus erwartete. Wie viele Jahre waren vergangen, seit er Philippa zuletzt vom Schwimmbad abgeholt hatte? Hartmut schaute aus dem Seitenfenster. Der Sendemast blinkte verloren in den Himmel, und etwas hatte sich unwiderruflich verändert. Nicht in der Welt, in seinem Kopf.

«Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen«, sagte Herr Meier mehr zu sich selbst.»Tagebuch schreiben. Klingt ein bisschen retro, oder?«

«Für Sie bestimmt. Ich meine Ihre Generation. Da vorne links.«

Seit zwei Jahren saß er nachts allein im Wohnzimmer, hörte es rauschen in den umliegenden Gärten und klammerte sich an die Hoffnung, Maria werde den Umzug nach Berlin zum Irrtum erklären und zu ihm zurückkehren. Ein vergeblicher Wunsch, der genau den Platz besetzte, an den die Einsicht gehörte, dass er eine Entscheidung treffen musste. Diesmal war es kein harmloses Gedankenspiel wie vor drei Tagen auf dem Hackeschen Markt, keine Mutprobe im Kopf, sondern die Wirklichkeit. Er musste einen Zug machen.