«Ein Haus hier oben war immer mein Traum«, sagte Herr Meier, als sie am Waldrand entlang über Kopfsteinpflaster rollten. Aus dem Funkgerät unter dem Taxameter kamen verzerrte Stimmen.
«Ich werde meins bald verkaufen«, hörte Hartmut sich sagen. Horchte dem Satz hinterher, ob er abwegig oder unglaubwürdig klang, und fand ihn allenfalls ein wenig kühn.»Meine Tochter studiert in Hamburg, meine Frau hat einen Job in Berlin, und für mich alleine ist das Haus zu groß. Das da vorne mit dem unordentlichen Garten. «Er zog sein Portemonnaie aus der Tasche. Dass es ihm Spaß machte, sich selbst mit Worten voraus zu sein, war das ein gutes oder schlechtes Zeichen? Würde er den Worten folgen oder morgen früh befinden, er habe zu viel getrunken und sich selbst einen Floh ins Ohr gesetzt?
«Das sind neun Euro sechzig. «Herr Meier hielt direkt vor der Einfahrt.»Aus dem Garten könnte man übrigens mehr machen, auch wenn er klein ist.«
Zum zweiten Mal an diesem Tag betrachtete Hartmut sein Grundstück durch ein Autofenster. Dunkel und verlassen und in der Tat eines Faceliftings bedürftig, bevor potentielle Käufer es in Augenschein nahmen.
«Mir fehlt die Zeit, verstehen Sie.«
Herr Meier streckte die Hand aus und zeigte auf den Kirschbaum neben der Terrasse.
«Apropos Zeit: Der geht Ihnen früher oder später ans Fundament. Wächst zu dicht am Haus. Quittung?«
«Nein. Stimmt so«, sagte Hartmut und reichte zwölf Euro nach vorne. Dann blickte er in den offenen Geldbeutel und beschloss, den Schwung des Augenblicks für einen weiteren Schritt zu nutzen.»Hören Sie, wenn ich Ihnen noch zwanzig Euro gebe, dreißig, wenn Sie wollen, würden Sie dann kurz mit reinkommen, sich das Haus ansehen und mir sagen, was ich dafür verlangen könnte?«
«Ich soll jetzt…?«Zum ersten Mal drehte Herr Meier den Kopf weit genug nach hinten, um Hartmut direkt anzusehen. Sicher war er damals im Seminar ein Hinterbänkler gewesen oder hatte nur unregelmäßig teilgenommen, sonst müsste sein Gesicht ihm wenigstens vage bekannt vorkommen.
«Schon seit Wochen hab ich vor, das Haus schätzen zu lassen«, sagte Hartmut,»und komme nicht dazu. Morgen fahre ich für einige Tage in Urlaub und würde die Sache gerne durchrechnen. Sind Sie mit dem Bonner Immobilienmarkt vertraut?«
«Einigermaßen. Genauer gesagt, ziemlich gut.«
«Also?«Hartmut zog einen Schein aus dem Geldbeutel und hielt ihn nach vorne.»Nur so Pi mal Daumen, zu meiner Orientierung.«
«Stecken Sie das wieder ein. «Herr Meier winkte ab, bevor er in schlecht gespielter Entrüstung den Gurt löste und die Fahrertür öffnete.»Sie wissen, dass das keine seriöse Schätzung wird. Eigentlich darf ich das gar nicht.«
«Vielen Dank. «Hartmut stieg auf der anderen Seite aus. Wie immer war es auf dem Venusberg zwei bis drei Grad kühler als unten in der Stadt. Er blickte die nächtlich leere Straße entlang, auf die Reihe gebogener Laternenmasten, deren Licht aufs schwarze Kopfsteinpflaster fiel. Ein Haus in bester Lage, damals nur finanzierbar dank einer kräftigen Finanzspritze seines Schwiegervaters. Neben der Einfahrt hatte vor zwei Jahren der Umzugswagen gestanden und Marias wenige Sachen aufgenommen. Seitdem lebte er mit dem Gefühl, seiner Frau hinterherzusehen. Hatte sich in Stress und Einsamkeit ergeben und nicht gemerkt, wie groß sein Verlangen geworden war, selbst vorauszufahren. Hatte es das früher nicht gegeben: Sehen, wohin die Straße führt, indem man ihr folgt? Hatte Wittgenstein nicht auch darüber geschrieben: 3.02 Der Gedanke enthält die Möglichkeit der Sachlage, die er denkt. Was denkbar ist, ist auch möglich. Das mochte stimmen oder nicht, aber wer es herausfinden wollte, musste den ersten Schritt tun. Dann noch einen. In der Hoffnung, Schwung zu gewinnen aus der eigenen Bewegung.
«So. Das war meine sehr ausführliche Antwort auf die Frage, was mich hierhergetrieben hat. «Hartmut hält inne und sieht Sandrine ins Gesicht. Erst jetzt wird ihm bewusst, wie lange er erzählt hat. Fast eine Stunde, die ganze Geschichte von Marias Auszug über den großen Streit bis vorgestern Abend. Beinahe ist er überrascht, wie bruchlos sich eins aus dem anderen ergeben zu haben schien. Alleine die Schlussfolgerung klingt ein wenig gezwungen, jedenfalls spürt er den Schwung seiner Bewegung nicht so stark wie die Widerstände.
«Verstehe. «Sandrine hockt mit angezogenen Beinen auf ihrem Stuhl und lächelt. Das Kerzenlicht macht die Falten um ihren Mund als schmale Schattenlinien sichtbar. Die Augen blicken ein wenig spöttisch, als hege auch sie Zweifel an seiner Entschlossenheit.
«Wir sind ins Haus gegangen«, sagt er,»der Kerl hat angefangen, sich umzuschauen, und ich dachte: Verdammt ja, es ist möglich. Woran ich hänge, ist schließlich weder das Haus noch Bonn. Nachdem er gegangen war, hab ich die Mail geschrieben und ein Zimmer reserviert. Am nächsten Morgen musste ich nur noch meine Sachen packen und losfahren.«
«Und hier bist du. Nach all den Jahren.«
«Ich weiß nicht mehr, mit welcher Vereinbarung wir damals auseinandergegangen sind. Mir war bloß klar, dass es zu lange her ist und ich den Kontakt nicht abreißen lassen will. «Er greift nach der Karaffe auf dem Tisch und schenkt sich Wasser ein.
«Du willst also tatsächlich dein Haus verkaufen«, sagt Sandrine, ohne auf seine Bemerkung einzugehen.»Vielleicht den Beruf wechseln. Ich gebe zu, das hätte ich dir nicht zugetraut.«
«Neulich hab ich gelesen, dass erwachsene Amerikaner im Schnitt alle fünf Jahre den Wohnort wechseln. In den USA tun die Leute es ständig: lassen das eine hinter sich und beginnen mit dem Nächsten. Du überlegst, mit Virginie zusammenzuziehen. Es ist ganz normal. Warum nicht für mich?«
Durch die Balkontür kommt kühle Luft herein. Sie sitzen einander über leeren Tellern gegenüber, an einem Klapptisch, den Hartmut ebenso sorgfältig stabilisiert hat wie am Nachmittag den Abstellplatz für das Tablett. In dem Journal-Artikel wurde außerdem ein direkter Zusammenhang zwischen Lebenseinstellung und Umzugsbereitschaft hergestellt: Je zuversichtlicher Leute in die Zukunft blicken, desto größer sei ihre Bereitschaft, den Wohnort zu wechseln. Über den Wert für Deutschland schrieben die Autoren, er sei vergleichsweise niedrig, aber im Steigen begriffen.
«Was mit dem Haus geschieht«, sagt er,»ist natürlich nicht die einzige Entscheidung, die demnächst ansteht. Nicht mal die wichtigste.«
«Das hab ich verstanden.«
«Eine Woche bleibt mir, und schon jetzt bin ich nervös, wenn ich meine E-Mails lese. Wahrscheinlich will der Verleger eine Antwort, bevor ich die Möglichkeit hatte, mit Maria zu sprechen. «Hartmut bricht ein Stück Baguette ab, fährt über die Olivenölreste auf seinem Teller und isst. Was Sandrine als kleine italienische Vorspeisenplatte angekündigt hatte, entpuppte sich als üppiges Mahl aus Meeresfrüchten und Parmaschinken, kleinen Melonenscheiben, Lachs und eingelegtem Gemüse. Den Salat dazu haben sie gemeinsam in der Küche zubereitet und über ihre früheren Kochversuche in Walters Haus gelacht. Während sie Schulter an Schulter Tomaten schnitten und an ihren Weingläsern nippten, war es so, wie er sich den Besuch vorgestellt hatte: Geschichten von früher, Orte, Namen. Wie die Bar hieß, die sie immer aufsuchten, wenn die Kochversuche gescheitert waren. Palmer’s Bar, Palmer’s Café oder einfach nur Palmer’s? Jetzt sitzt Sandrine mit verschränkten Armen auf ihrem Platz und schaut ihn fragend an.
«Soll ich noch einen Wein aufmachen oder… Willst du Kaffee, einen Tee?«
«Einen Rat könnte ich gebrauchen.«
«Von mir?«
«Deine Cousine würde empfehlen: weiterleben wie bisher. Mein Fall liegt aber anders. «Tatsächlich hat seine plötzliche Entscheidungsfreude schon vorgestern Abend einen ersten Dämpfer erlitten. Auf den Wert des Hauses wollte sich Herr Meier nicht festlegen. Die Kellerwände seien ein Unsicherheitsfaktor, auf die müsste er bei Tageslicht einen genaueren Blick werfen, sagte er, als sie nach einem Rundgang durchs Haus wieder in der Küche standen. Das Dach scheine solide, aber neue Besitzer würden wohl bald an ein Auswechseln der Ziegel denken. Für den Zustand der Wasserleitungen lege er seine Hand nicht ins Feuer und so weiter. Der spontan berufene Gutachter nahm seine Aufgabe überaus ernst. Das Entscheidende beim Verkauf einer Immobilie sei ohnehin das Grundstück. Nur Laien klammerten sich an den Mietpreisspiegel, der Experte schaue auf den Bodenrichtwert. Hier oben auf dem Venusberg betrage er über vierhundert Euro. Wenn Hartmut ihm sage, wie groß das Grundstück sei, werde er ihm den Marktwert ausrechnen. Sofort, aber wohlgemerkt ohne Garantie, dass ein Käufer den Preis auch zahlen wolle.