«Für einen Politiker nicht schlecht.«
«Das ist es, was du tun musst, dich entscheiden und das Beste draus machen. Nicht vorher wissen wollen, was du erst hinterher wissen kannst.«
«Klingt nach der leichtesten Sache der Welt.«
«Nein. Aber nach deiner Sache. «Sie sieht ihn an, und er versteht, was sie meint. Unter ihnen glitzert Paris in tausend Lichtern. Erst jetzt fällt ihm auf, dass sie den ganzen Abend keine Musik gehört haben. Damals war es Purple Sun, das Geschenk ihres Vaters und der Anfang von so vielem, wovon es längst zu spät ist zu sprechen. Was Sandrine mit seinen Händen tut, gehört bereits zum Abschied, und sie wird nicht dulden, dass er ihn dramatisiert oder verkitscht. Alles Wichtige ist gesagt. Als er seine Hände zurückzieht, nickt sie lediglich.
«Ich muss los. «Er steht auf.
«Ich weiß noch, wie wir in Minneapolis am Flughafen standen. Du hast von Berlin geredet, und ich wollte mir nichts anmerken lassen. Ich war kurz davor, es zu sagen, aber dann hättest du mir widersprochen, und wir hätten uns im letzten Moment gestritten. Das wollte ich nicht. «Sie spricht geradeaus, als säße er ihr noch gegenüber.
«Ich wusste es selbst«, sagt er.»Es war nicht realistisch.«
«Hinterher hat es mich gestört, dass ich ausgerechnet in diesem Moment nicht ehrlich war. Es ist das Einzige, was ich lange Zeit bereut habe.«
«Es hätte nichts geändert.«
«Trotzdem. Um unseretwillen.«
Er würde gerne etwas tun: ein Glas in die Spüle stellen, ihre Teller aus dem Wohnzimmer holen, den wackeligen Esstisch wieder zusammenklappen, irgendwas. Stattdessen nimmt er das Foto vom Küchentisch und fragt:»Kann ich das mitnehmen?«
«Ich hab ein besseres Andenken für dich. Fiel mir in die Hände, als ich nach deinen Briefen gesucht habe. «Sie steht auf und geht ins Wohnzimmer.
Ein weiterer Teil der Erinnerung an jenen Nachmittag kehrt zurück, an ein trostloses Kaff mit billigen Souvenirläden und Cafés. Leere Straßen und scheele Blicke auf Sandrines kurzes Kleid. Es war im Sommer 74, kurz nach Nixons Rücktritt. Außer einer Dampferfahrt über den Mississippi hatte Hannibal nichts zu bieten. Dann kam der Typ in Uniform von der Brücke geschlendert und entdeckte, wonach er gesucht hatte. Lächelte maliziös und steuerte direkt auf sie zu.
Sandrine kommt mit einer Schallplatte in der Hand zurück. Einer Single, verpackt lediglich in die weiße Innenhülle. Auf dem kreisförmigen Label steht ›Voice-O-Graph‹, sonst nichts.
«Ich wette, du hast zu Hause einen Plattenspieler«, sagt sie.
«Ich hab sogar noch ein Tonbandgerät. Haben wir das aufgenommen?«
«Hör’s dir an, dann fällt es dir wieder ein. Es ist ziemlich authentisch.«
«Ich erinnere mich jetzt an den Typ auf dem Schiff. Er wollte, dass ich dir den Arm um die Schultern lege, und als ich es nicht getan habe, hat er mich als sissy verspottet.«
Sandrine stellt sich auf die Zehenspitzen und küsst ihn auf die Wange.
«Danach hast du den ganzen Tag kein Wort geredet. Wir sind runter vom Schiff und sofort weitergefahren nach St. Louis.«
Alles, was er vorher vermisst hat an ihr, ist auf einmal wieder da: die beiläufige Art, mit der sie ihre Zärtlichkeiten verteilt und doch genau weiß, was sie tut. Die Ernsthaftigkeit ihrer Zuneigung, beinahe eine Art von Loyalität. Ihr Lächeln ist halb nach innen gekehrt, der Stolz versteckt, und gleichzeitig lässt ihre Entschiedenheit keinen Zweifel daran, dass sie einander gleich zum letzten Mal umarmen werden. Einen Besuch mit Pralinen wird es nicht geben. Ihre Geschichte endet jetzt.
Hand in Hand gehen sie zur Wohnungstür. Hartmut nimmt sein Jackett von der Garderobe und sucht nach einem Vorwand, um einen letzten Blick ins Wohnzimmer zu werfen. Schaut noch einmal auf die Platte in seiner Hand und nickt.
«Danke.«
«Ich bin froh, dass du gekommen bist«, sagt sie.
Als er sie ihn den Arm nimmt, steht die Wohnungstür bereits offen, und aus dem Treppenhaus erreicht ihn der kühle Geruch von Bohnerwachs. Es ist eine Sache von Sekunden. Mit einer Hand fährt sie ihm über die Wange.
«Mach’s gut«, sagt er so fest wie möglich.
Sandrine nickt. Sie ist wieder, was sie bei seiner Ankunft war, ein Schemen in der offenen Tür.
Dann geht er.
1980
Die Achtzigerjahre beginnen kalt. Alle Seen um Berlin frieren zu, und am frühen Morgen stehen senkrechte Rauchsäulen über den Dächern. Die Zeitungen verurteilen den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan und versuchen vorherzusagen, wie die Mitgliedschaft der DDR im Weltsicherheitsrat sich auf das deutsch-deutsche Verhältnis auswirken wird. An einem Donnerstagmittag Anfang Februar hat Hartmut eine produktive Seminarsitzung beendet, mit wachen Studenten und einem schlagfertigen Dozenten, der zu Hause die richtigen Fragen antizipiert und prägnante Antworten vorbereitet hatte. Einer dieser Tage, an dem die klirrende Kälte des Berliner Winters ihm nichts anhaben kann. Der arbeitsintensive Teil der Woche liegt hinter ihm, und der Chef ist nicht im Haus. Vor seiner Bürotür hält Hartmut den Seminarordner und eine leere Kaffeetasse in der rechten Hand und sucht mit der linken nach dem Schlüsselbund, als hinter ihm eine rauchige Stimme» Hi «sagt.
Er dreht sich um.
Sie heißt Tereza und arbeitet am Lateinamerika-Institut der FU. Zwei Mal in der Woche kommt sie zum Ernst-Reuter-Platz, um an einem Tutorium über Ernesto Cardenal mitzuwirken. Zusammen mit anderen Assistenten sind sie und Hartmut ein paar Mal Mittagessen gegangen, und bei einer dieser Gelegenheiten hat sie ihn auf energische Art davon zu überzeugen versucht, dass das Neue Testament eine dem Marxismus nahestehende Soziallehre beinhalte.»Und du sagst jetzt nicht einfach ›Ostblock‹, sondern hörst mir zu, mi niño. «Auf der Geburtstagsfeier seines Kollegen Dietmar Jacobs hat er sie tanzen sehen, und dieser Anblick ist ihm noch besser im Gedächtnis geblieben als ihre Argumente für den Proto-Marxismus der Bergpredigt. Sie ist klein und drall, mit schmaler Taille, breiten Hüften und großen Brüsten. Die dunklen Locken werden von Haarbändern zurückgehalten, und an den Ohren hängen komplexe Gebilde, die ihre Rede mit leisen Geräuschen untermalen. Als sie einander gegenüberstehen, trifft ihn der Blick aus ihren schwarzen Augen, nicht auf der Höhe des Gesichts, sondern als suchte sie nach Flecken auf seinem Hemdkragen.
«Hallo«, sagt er.»Schon gegessen?«
«Neulich hab ich mit einer Freundin über deinen Schal gesprochen. Wo kriegt man so was?«
Gemeinsam werfen sie einen Blick auf den dunklen Kaschmirstoff.
«KaDeWe.«
«Du bist ein Snob«, stellt sie zufrieden fest.»Darf ich mal?«
Bevor er antworten kann, greift sie nach dem Schal, und er muss den Kopf nach vorne neigen wie ein Sportler bei der Siegerehrung. Er riecht Shampoo und einen Hauch Tabak.
Schnuppernd drückt sie ihre Nase in den Stoff, bevor sie ihn sich umhängt und ein Ende über die Schulter schwingt. Das vordere Ende liegt zwischen ihren Brüsten. Steht dir gut, will er sagen, aber sie kommt ihm zuvor.
«Nächste Woche Samstag feiern wir das Diplom meiner Freundin. Sagt man das so? Wir feiern das Diplom?«
«Eigentlich feiert ihr ja die Freundin, aber man kann es so sagen.«
«Nicht ihr, wir. Du auch, wenn du willst. Du bist eingeladen.«
«Danke.«
«Danke was?«
«Für die Einladung.«
«Aber kommst du auch?«
«Ja, klar.«
«Erst bei uns in der Wohnung. Und später mal sehen.«