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«Vielen Dank.«

«Hast du schon gesagt. Du bist ein höflicher Snob. Aber nach der Revolution ist Schluss mit dem Luxus, okay?«Sie legt den Schal wieder um seinen Nacken und streicht ihn mit den Händen glatt. Dann teilt sie ihm ihre Adresse mit und geht zurück Richtung Aufzug, und Hartmut sieht ihr nach und erwägt verschiedene Möglichkeiten der Nachmittagsgestaltung. Soll er Bücher kaufen oder das Geld lieber in ein neues Kleidungsstück investieren, das Tereza zu weiteren koketten Gesten animiert? Schließlich schlendert er hinüber ins andere Büro, wo eine Kollegin ihn daran erinnert, dass Anne donnerstags ihren Maschinentag hat und sich im Institut für Soziologie aufhält. Also zieht er seine Winterjacke an und geht rüber in die Franklinstraße.

Die Luft ist kalt und riecht nach Schnee. Auf dem Kanal unter der Marchbrücke ziehen Enten über das Wasser, schnattern und kippen vornüber auf der Suche nach Futter. Die kurze Begegnung mit Tereza hat ihn beschwingt, wovon er Anne profitieren lassen will, er weiß selbst noch nicht wie. Auf jeden Fall, ohne ihr den Grund seiner guten Stimmung zu verraten.

Im zweiten Stock findet er sie kauernd vor dem Lochkartenstanzer und merkt erst beim Näherkommen, dass sie sich nicht konzentriert über ihre Arbeit beugt, sondern weinend das Gesicht in die Hände gräbt. Neben ihr liegt ein Stapel Karten mit den an Blindenschrift erinnernden Codierungen. Für ihren Doktorvater muss Anne manuell ausgefüllte Fragebögen auf Lochkarten übertragen und ist jedes Mal überzeugt, dass ihr entweder bei der Codierung oder bei der Befehlseingabe ein Fehler unterlaufen wird, der den gesamten Job ruiniert — was nicht selten geschieht. Stundenlange Arbeit, die sich als vergebens erweist, wenn die Maschine statt der gewünschten Analyse eine trockene Fehlermeldung ausspuckt. Professor Kreutz reagiert zwar verständnisvoll, aber den Fehler zu korrigieren und den Job zu wiederholen dauert viele weitere Stunden, die Anne im neonbeleuchteten Maschinenraum verbringen muss. Hartmut stellt sich hinter sie und legt ihr die Hände auf die Schultern.

«Schlimm?«, fragt er. Jedes Mal, wenn Anne ein Missgeschick passiert, wird sie auf unheimliche Weise zum Alter Ego ihrer Mutter. Macht einen weiteren Eintrag in das Verzeichnis von Nachlässigkeiten und Fehlern, das den roten Faden ihrer Biographie zu bilden scheint. Klaus mit seinen Stummelfingern radiert daran herum, klammert Einträge ein und streicht die Wiederholungen heraus und erreicht am Ende gar nichts. Seit Kreta redet Anne anders über ihn. Unduldsamer. Auf vertrackte Weise ist er derjenige, der sie am besten versteht und ihr am wenigsten helfen kann.

«Sag schon. «Er massiert ihre Schultern. Draußen beginnt es zu schneien. Minneapolis-Wetter.

«Ein kleiner Tippfehler bei der Eingabe, und schon ist bei diesem SPSS alles im Arsch.«

«So was kann vorkommen. Es mag ärgerlich sein und Zeit kosten, aber es ist nicht schlimm.«

«Für dich nicht. Es ist der dritte Fehler im selben Job.«

«Schau«, sagt er,»es schneit. «Der Schneefall wird schnell dichter, und weil Anne nicht hinsehen will, nimmt er ihr Gesicht in beide Hände und dreht es zum Fenster.»Wann bist du zum letzten Mal Schlitten gefahren?«

«Im Dezember fünfundsiebzig.«

«Das weiß du so genau?«

«Wir waren über Weihnachten im Harz, mit Kollegen von Klaus. Irgendwo auf der westdeutschen Seite. Am zweiten Feiertag sind wir rodeln gegangen, Klaus und ich saßen auf einem Schlitten, bis ein Loch im Boden uns aus der Bahn geworfen hat. Wir lagen im Schnee, haben uns angeschaut, und Klaus sagte: Heirate mich, Anne. Sechsundzwanzigster Dezember neunzehnhundertfünfundsiebzig.«

«Lass uns essen gehen.«

«Ich hab keinen Hunger.«

«Lass uns trotzdem essen gehen.«

«Du merkst es gar nicht, oder?«

Hartmut sieht Schneeflocken an den Fenstern entlangstreichen und wünscht, er wäre alleine mittagessen gegangen. Nach draußen sehen und nicht reden müssen. Natürlich merkt er es. Warum sonst würde er krampfhaft versuchen, es zu ignorieren?

«Ich wusste, dass es passieren würde«, sagt sie.»Wahrscheinlich wusste ich es, als du zum ersten Mal in mein Büro gekommen bist. Ich kann nicht einem Menschen so nahe sein, ohne mich zu verlieben.«

«Du konntest es mit dem Kollegen von Klaus.«

«Der hatte eine Glatze und hat Herman van Veen gehört. Außerdem war ich ihm nicht nah, ich hab nie eine Nacht bei ihm verbracht.«

Eine Weile blicken sie schweigend vor sich hin. Seit sechs Monaten führen sie diesen Lückenbüßer von einer Beziehung, haben beide ein schlechtes Gewissen, ohne es voreinander zuzugeben, und scheinen darauf zu warten, dass die Sache von sich aus an ein Ende kommt. Er jedenfalls wartet.

«Ich weiß nicht, wie lange ich so weitermachen kann«, sagt Anne.»Warum bin ich noch mit Klaus verheiratet, wenn ich dich liebe? Warum bist du mit mir zusammen, wenn du mich nicht liebst? Warum promoviere ich, wenn das Letzte, was ich will, eine akademische Karriere ist? Gibt es irgendwas in meinem Leben, das einen Sinn ergibt?«

«Du liebst deinen Mann. Du hast es oft gesagt.«

«Die Psychotherapie in der gottverdammten Sowjetunion, das ist alles, worüber wir sprechen. Wusstest du, dass die simplifizierende Pawlow’sche Neurosenlehre schon seit den Sechzigerjahren ihre Monopolstellung verloren hat?«Ihre Stimme wird hart und bitter.

«Anne.«

«Und dass sie überhaupt ein Erbe der deutschen Psychiatrie gewesen ist, was häufig übersehen wird. Sehr häufig sogar. Außer meinem Mann übersehen es eigentlich alle.«

«Anne, nimm’s mir nicht übel, aber… hast du deine Tage?«

Mit zusammengepressten Lippen sieht sie ihn an. Ihre Miene erinnert ihn an das, was er früher Ruths Heulsusengesicht genannt hat.

«Schön, wenn’s nur Tage wären«, sagt sie.»Es ist aber mein Leben.«

Darauf erwidert er nichts, sondern schiebt ein paar Karteikästen zur Seite und setzt sich auf die Tischkante. In manchen Momenten betrachtet er sie mit einer Kälte, die ihn selbst erschreckt. Lacht innerlich über die grotesken Grimassen ihrer Ekstase, will nichts hören von den ständigen Klagen über ihre Mutter, verachtet die ganze mimosenhafte Empfindsamkeit, die sich in bebenden Schultern und feuchten Augen äußert. Immer häufiger fühlt er sich im Bett wie bei den einsamen Runden, die er früher um den Arnauer Sportplatz gedreht hat. Noch eine und noch eine, in der Verfolgung keines anderen Ziels als körperlicher Erschöpfung. Wenn er hinterher neben ihr liegt, erreicht ihn die Einsicht von damals wie eine aus dem Fluss der Zeit gefischte Flaschenpost: Man kann vor sich selbst davonlaufen — aber nur solange man läuft.

«Ich kann die Probleme zwischen dir und Klaus nicht lösen«, sagt er.

«Willst du mich verlassen?«

«Du bist verheiratet. Und ich bin nicht die Lösung deiner Probleme. «Beinahe hätte er hinzugefügt: Das findet auch meine Schwester. Ruth fordert bei jedem Telefonat, er solle endlich das Verhältnis mit einer verheirateten Frau beenden. Dass Annes Mann von den Treffen nicht nur weiß, sondern sie begrüßt, macht die Sache in ihren Augen nicht besser. Warum suchst du dir keine Frau, mit der du richtig zusammen sein kannst? hat sie letzten Sonntag wieder gefragt. Eine, die nicht ihren Mann anrufen muss, wenn sie die Nacht bei dir verbringen will. Die Wahrheit ist, dass er sehr wohl sucht, wenn er im ersten Stock von Kiepert nicht auf das Taschenbuch in seinen Händen, sondern auf diese oder jene Kundin blickt. Wenn er im Café sitzt, U-Bahn fährt oder im Supermarkt denselben Wein kauft wie die Blonde vor ihm. Auf den Partys, die er neuerdings besucht, signalisieren Gesprächspartnerinnen nicht selten die Bereitschaft, größere Mengen erotischen Kapitals auf ihn zu setzen und zu schauen, was er damit anstellt — warum nicht darauf eingehen? Es ist die Zeit von Rollkragenpullovern, Koteletten und einer Libertinage, die keine großen Gesten mehr nötig hat. Manchmal beobachtet er Paare, die mit einem Nicken zueinanderfinden. Die andere Wahrheit hält er auch vor Ruth geheim: dass er nicht ›richtig‹ mit einer anderen Frau zusammen sein will, weil irgendwann Sandrine mit ihrer Doktorarbeit fertig werden muss.