Annes Blick wird eindringlich.
«Manchmal glaube ich, du hast keine Ahnung, wie schwierig das alles für mich ist. Was sind eigentlich meine Probleme? Ich schaffe es nicht, das Leben zu leben, das ich gerne leben würde, so viel ist klar. Aber liegt das an mir oder an meiner Mutter? Ist es Schicksal? Übrigens hattest du recht neulich: Es ist wirklich eine Form von Abhängigkeit, Liebe. Entweder beide lieben einander, oder es ist unerträglich.«
Ich muss weiter, denkt er.
«Klaus besteht drauf, dich kennenzulernen«, sagt Anne.»Er findet es respektlos, dass du dich dauernd davor drückst. «Dann dreht sie sich um, und was auch immer ihre Probleme sind und worin sie ihren Ursprung haben, in der erektilen Dysfunktion ihres Mannes oder den sozialen Statuskomplexen ihrer Mutter, sie finden geballten Ausdruck in der Art, mit der sie sich um einen lockeren Tonfall bemüht und dabei beinahe wieder in Schluchzen ausbricht.»Immerhin fickst du seine Frau.«
«Okay«, sagt er, um der Stille nach diesem Satz zu entkommen.
«Nächste Woche Samstag bei uns zu Hause.«
Er nickt und unterlässt es, die Party bei Tereza zu erwähnen. Dort kann er später vorbeischauen. Vorerst gibt er Anne einen aufmunternden Klaps auf die Schulter und zeigt zur Tür.»Dann lass uns jetzt essen gehen.«
Am darauffolgenden Dienstag schlüpft Anne in sein Büro, mit roten Wangen und strahlenden Augen, und sagt, er solle sich wegen Samstag keine Sorgen machen. Auch nichts mitbringen, sondern sich einfach auf einen netten Abend mit ihr und Klaus freuen. Der werde seinen berühmten Sauerbraten mit selbst gemachten Klößen servieren. Nervös kichernd deckt sie ihn mit Küssen ein und ist nicht beleidigt, als er sie unter dem Hinweis, er müsse das Seminar am Nachmittag vorbereiten, aus der Tür schiebt. Auf dem Schreibtisch liegt der Torso eines Textes, auf den Professor Simon seit Wochen wartet. Neulich hat Hartmut sich zum ersten Mal dabei ertappt, wie er vor dem Verlassen des Büros den Kopf aus der Tür steckte und den Flur entlangblickte. Nicht mehr lange, und er wird die Treppe nehmen, um ein Stockwerk tiefer auf den Aufzug zu warten.
Es schneit die ganze Woche über. Felix und Florian überschlagen sich, wenn sie ihm am Telefon von ihren Schlittenfahrten erzählen. Sogar in Charlottenburg sind die Bürgersteige zugeschneit und werden gesäumt von kleinen gelbrandigen Kratern. Die Kastanie vor seinem Haus ist weiß bedeckt bis in die dünnsten Verästelungen ihrer Krone. Tief hängt der Himmel über der Stadt. Die Aussicht, an einem Abend sowohl dem Mann zu begegnen, mit dessen Frau er schläft, als auch der Frau, mit der er lieber schlafen würde, lässt Hartmuts Phantasie immer neue Szenarien des Gelingens und Scheiterns entwerfen. Er wundert sich, wie leicht Tereza es geschafft hat, ein Zimmer im Haus seiner Tagträume zu beziehen. Dort erwartet sie ihn, aber wenn er sich zu ihr stehlen will, ist es nicht Anne, sondern Sandrine, der er die Tür ins Gesicht schlagen muss, bevor er Tereza aus den Kleidern hilft.
Am Samstagabend um fünf vor sieben steigt er am Heidelberger Platz aus der U-Bahn und findet ohne Probleme den angewiesenen Eingang. Ein fünfstöckiges Gebäude mit Jugendstilfassade. Hier wohnen sie, die liebestolle Frau Saalbach und ihr toleranter Gatte, Mitbegründer des Therapeutenkollektivs Gegen-Warte e.V., das in seinen frühen Jahren mehrfach in Verfassungsschutzberichten aufgetaucht ist. Inzwischen haben die Mitglieder alle ihren Kassensitz.
Die Gegensprechanlage bleibt stumm, aber das Summen des Türöffners antwortet so schnell, als habe jemand neben der Klingel Wache gestanden. Im Treppenhaus dämpft ein Bastbelag seine Schritte. Große hölzerne Türen, hinter denen er gediegene Salons vermutet. Über sich hört Hartmut ein Klicken, und er hofft, es werde Anne alleine sein, die ihn an der Tür erwartet. Plötzlich freut er sich darauf, sie zu sehen.
Sie steht in der Tür und sieht anders aus als sonst. Trägt Rock und Bluse und schaut ihm aus ihren großen Augen entgegen. Dankbar, ängstlich und froh.
«Hallo«, sagt er. Es rührt ihn, dass sie ihn so schüchtern küsst, mit Lippen, auf denen er zum ersten Mal ein helles Rouge sieht.
«Hallo. «Sie streckt die Hand aus und fährt ihm durch die kurzen Haare. Um die Zeit totzuschlagen, war er am Nachmittag beim Friseur.
Sie nimmt seine Hand und zieht ihn in die Wohnung. Ein geräumiger Flur mit dunklen Bodendielen, in dem es schwer und würzig nach Braten riecht. Rechts und links führen Türen in hell erleuchtete Zimmer. Im Vorbeigehen fällt Hartmuts Blick auf volle Bücherregale, aber bevor er den Mantel ablegen kann, zieht Anne ihn weiter in die Küche.»So«, sagt sie mit einem Schulterzucken, als ihr Ehemann und ihr Liebhaber einander schließlich gegenüberstehen.
Mit Schürze und aufgerollten Hemdsärmeln steht Klaus vor dem Herd. Ein stämmiger Mann, vollbärtig, bebrillt und mit Ansätzen von Geheimratsecken auf der Stirn.
«Hartmut«, sagt er und macht zwei Schritte auf ihn zu.»Freut mich, dass wir uns kennenlernen. «Er sagt nicht ›endlich kennenlernen‹ oder ›schließlich doch noch kennenlernen‹, sondern schüttelt ihm kräftig die Hand, und Hartmuts Suche nach einem versteckten Vorbehalt, einem Anzeichen von Missgunst hinter der freundlichen Fassade bleibt ohne Ergebnis.
«Freut mich auch«, erwidert er.
«Ich bin gleich so weit. Oder nicht ich, der Kollege im Ofen. «Eine angenehm dunkle Stimme — Anne hat das erwähnt, und es fällt ihm sofort auf. Eine Stimme, die Vertrauen erweckt.
Dunst hängt in der Küche und lässt die Fenster beschlagen. Auf dem Elektroherd steht ein riesiger Topf, aus dem Wasserdampf in die Abzugshaube strömt. Hartmut beginnt zu schwitzen, zieht den Mantel aus und steckt seinen Schal in die Ärmelöffnung. Mit dem Kleidungsstück in der Hand verschwindet Anne im Flur, und er muss dem Drang widerstehen, ihr aus der Tür zu folgen.
«Womit fängst du an?«, fragt Klaus.»Sherry oder ein Glas Prosecco?«
«Einen Sherry, warum nicht?«
Klaus weist mit dem Finger aus der Tür Richtung Wohnzimmer. Als er vorangeht, fällt Hartmut auf, wie schwerfällig er sich bewegt, hüftsteif und als trage er zu kleine Schuhe. Dreiundvierzig oder vierundvierzig ist er, wirkt aber älter. Im Wohnzimmer steuert er auf einen Glasschrank zu, dessen Auswahl an Spirituosen es mit den Beständen einer Hotelbar aufnehmen könnte. Dutzende Flaschen mit bunten Etiketten, darüber eine nicht weniger beeindruckende Ansammlung von Gläsern, als stehe für jeden Inhalt eine eigene Form bereit. Anne sitzt an dem großen gedeckten Eichentisch und reibt sich die Unterarme. Hinter den Fenstern fällt Schnee in die Nacht, in den freien Raum über dem Heidelberger Platz. Es scheint nicht mehr aufhören zu wollen.
«Sherry«, sagt Klaus und reicht ihm ein schlankes, langstieliges Glas.»Ich hoffe, du magst Sauerbraten. Den selten zubereiteten Schweine-Sauerbraten in diesem Fall.«
«Sicher.«
«Pepse sagt man im Rheinland dazu. Hab nie herausfinden können warum.«
«Obwohl du es sicher versucht hast — es herauszufinden?«, sagt Anne, und Klaus schenkt ihr einen Blick voll väterlicher Zuneigung.
«Möchtest du auch was trinken?«
«Mein Glas steht in der Küche. «Wieder verschwindet sie nach draußen und lässt Hartmut zurück in der Gesellschaft ihres Mannes. In den Regalen herrscht sorgfältig gewahrte Unordnung, stehen die Bücher mal gestapelt, mal aufgereiht, und auf dem Boden liegen Schallplatten in ihren weißen Innenhüllen. Zuerst glaubt Hartmut, sich zu verhören, aber auf dem Saxophon im Hintergrund spielt Jan Garbarek, Going Places, kein Zweifel. Ist das Zufall oder verbindet Klaus und ihn eine gemeinsame musikalische Vorliebe? Anne jedenfalls hat nie erwähnt, dass sie Jazz mag.
«Philosophie!«, ruft sein Gastgeber unvermittelt, als würde er gespannten Zuhörern die Ankunft einer bedeutenden Persönlichkeit verkünden.»Hat mich immer interessiert. Allerdings die amerikanische Variante etwas weniger. Da hab ich den Eindruck, man weicht den eigentlich wichtigen Fragen aus und flüchtet in die… delikaten Verästelungen der Irrelevanz. «Das kurze Zögern verrät, dass er sich die Formulierung für den Anlass zurechtgelegt hat. Hartmut kostet den ersten Sherry seines Lebens, findet ihn trinkbar und verzichtet vorerst auf eine Antwort.