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Als es auf zehn Uhr zugeht, beginnt Hartmut, an die Party bei Tereza zu denken. Der Rotwein macht ihn träge und unbekümmert. Sie sind einander noch zwei Mal im Telefunken-Hochhaus begegnet, und es gefällt ihm, dass Tereza immer eine flirtende Bemerkung auf den Lippen hat, ihn ›chico lindo‹ oder dergleichen nennt und keinen Hehl daraus macht, wie attraktiv sie ihn findet. Ob sie von seiner Beziehung zu Anne erfahren hat, weiß er nicht; falls ja, scheint sie darin kein Hindernis zu sehen.

Zum Nachtisch gibt es Eis mit heißen Kirschen, und Hartmut wundert sich, dass Klaus als Zuckerkranker dieselbe Portion verdrückt wie er. Dann noch ein Glas Grappa, danach ist Hartmut angetrunken und will hinaus in den Schnee. Sein Gesicht glüht. Annes nackte Fußspitze umspielt seine Knöchel, während Klaus zu dem Ergebnis kommt, dass Jesus und die heiligen Männer der Kirche meist bärtig dargestellt werden und dass Pfarrer sich wohl daran orientieren. Schließlich senkt sich Stille über den Tisch. Die Platte ist abgelaufen, und Hartmut zieht seinen Fuß zurück, aus Angst, das sanfte Reiben von Annes Zehen werde hörbar. Einen Moment lang starren alle auf ihre leeren Teller.

«Ich denke, ich geh dann mal. «Er muss sich anstrengen, die Wörter sauber voneinander zu trennen.»Bevor wir so einschneien, dass keine Bahn mehr fährt.«

Im Flur gibt Klaus ihm die Hand und scheint die richtigen Worte zum Abschied nicht finden zu können. Dass es ihn sehr gefreut habe, bringt er hervor, und dass angesichts der Situation… Es sei für ihn wichtig zu wissen, dass… Und für Anne sei es nicht leicht, aber… Er zuckt mit den Schultern.

«Ich hoffe, wir sehen uns öfter.«

«Vielen Dank für das Essen.«

«Aber irgendwann will ich eine Antwort von dir. Warum dieser Rückfall in kruden Positivismus?«

«Weil man nicht immer Luftschlösser bauen kann. Man muss sich auch mal den Boden angucken«, sagt Hartmut und kommt sich albern vor. Wie ein Pennäler, der mit Worten jongliert, die er bei den Erwachsenen aufgeschnappt hat.

«Reicht mir nicht. Komm gut nach Hause. «Klaus verschwindet in der Küche, und Hartmut steht mit Anne im Treppenhaus, wo es angenehm kühl und dunkel ist. Er will feiern, mehr trinken und mit Tereza schlafen. Lust kommt in ihm auf, nicht nur auf den Körper einer anderen Frau, sondern auf alles. Anfang dreißig ist er, und was hat er erlebt? Erst nichts, dann Langeweile und Einsamkeit, schließlich Sandrine. Die zankt lieber mit ihrem Betreuer, als endlich nach Berlin zu kommen, und er will nicht länger warten. Beinahe hätte er Anne bei den vor der Brust verschränkten Armen gepackt und sie kräftig geschüttelt. Schon gar nicht will er das Trostpflaster spielen für die Frau eines unsinnlichen, liebevollen Mannes, der zu fürsorglich ist, als dass sie ihn verlassen könnte, und zu kauzig, um es mit ihm auszuhalten. Er ist das Dauerbumsen leid, diese horizontalen Überstunden, die schon lange kein Abenteuer mehr sind. Lass mich in Ruhe! will er brüllen, er wird wütend unter Annes schweigendem Blick, der ihn an seinen Fauxpas erinnern und klarstellen soll, dass sie die Verletzte ist und er der Missetäter. Draußen wartet die Stadt auf ihn, ein Ort voller Frauen und Verlockungen, und er muss jetzt dahin und endlich sein Leben leben!

«Dann eben nicht«, sagt Anne und wendet sich Richtung Tür.

«Du weißt genau, dass ich das nicht sagen wollte. Und es auch nicht gesagt habe.«

«Ich weiß, dass es für dich Wichtigeres gibt als mein Unglück. «Wieder ein Satz, den sie von Ursula Saalbach geerbt hat, wie die großen Augen und die blasse Haut. Kein Wunder, dass der Vater seit zwanzig Jahren in Brasilien lebt. Wahrscheinlich gehört auch das Zusammenpressen der Lippen zum Familieninventar. Die Lippen pressen, und aus den Augen quillt es heraus, aber er ist in diesem Moment frei von dem Bedürfnis, sie zu trösten.

«Wir reden ein andermal«, sagt er.

«Wir haben noch nie geredet, und wahrscheinlich werden wir es nie tun. Ich bin dir unangenehm. Im Grunde tickst du wie die frommen Bauern in diesem Kaff, aus dem du kommst. Für dich bin ich bloß ein notgeiles Miststück. Bumsen, und dann nichts wie weg.«

«Ich weiß nicht, warum du das jetzt sagen musst.«

«Hör auf, dir was vorzumachen. Du tust verständnisvoll, aber du verstehst nichts. Manchmal guckst du mich an, als wäre ich behindert. Vielleicht bin ich nicht, wie ich sein soll. Glaubst du, dass du es bist?«

Binnen weniger Sekunden wird aus dem Gefühl, weglaufen zu wollen, das Gefühl, rausgeschmissen worden zu sein. Tränen laufen über Annes Gesicht, aber darum kümmert sie sich nicht, sondern sieht ihn an. Der Eindruck, sie könne seine Gedanken lesen, ist derart beklemmend, dass Hartmut nur versuchen kann, gar nichts zu denken. Wieder einer dieser Momente der Wahrheit, in denen er nach Worten sucht und sie nicht findet. Sich verteidigen will und nicht weiß wie.

Langsam schüttelt er den Kopf.

Anne schließt die Tür.

~ ~ ~

6 Trotz des Altersunterschieds von fünfzehn Jahren hat er sich Bernhard Tauschner gegenüber nie als der Ältere gefühlt. Weder am Institut noch bei ihren geselligen Abenden am Rhein. Dass Bernhard ungeachtet seines Stilbewusstseins nichts auf Äußerlichkeiten gab, machte den Umgang leicht. Ebenso frei von Breugmanns Allüren wie von Herweghs Schrullen, ging es ihm um jenes Wesentliche, das eine abgewirtschaftete Philosophietradition als Essenz bezeichnet hatte. Wie radikal er dabei sein konnte, verstand Hartmut erst ganz am Ende, als Bernhard seine Juniorprofessur niederlegte, um in Südfrankreich ein Weinlokal zu eröffnen. Auf der Suche nach einer Lebensform im Einklang mit seinen eigenwilligen Überzeugungen. Ob sie in den zweieinhalb Jahren zuvor Freunde oder bloß gute Kollegen gewesen sind, gehört zu den Fragen, über die Hartmut an diesem Morgen aufs Neue nachdenkt. Auf dem Weg hinaus aus der Stadt.

Das Navigationsgerät leitet ihn durch ein Gewirr von verstopften Ausfallstraßen zur A 10. Graue Wolken hängen über den einförmigen Betonschichten um das eigentliche Paris. Nach dem Abschied von Sandrine hat er schlecht geschlafen, wirr geträumt und heute Morgen im Hotel mehr Kaffee getrunken als sonst. Jetzt muss er auf die im Rückspiegel heranfliegenden Motorräder achten, die sich zwischen den dichten Fahrzeugkolonnen hindurchzwängen. Orléans und Tours lautet die Richtung, Mimizan ist das Ziel. In einer seiner letzten E-Mails hat Bernhard geschrieben, ›jemand wie Du‹ könne einen solchen Schritt wohl nicht nachvollziehen, aber er bereue ihn keineswegs. Wenn man unter Denken mehr verstehe als die sorgsame Verwaltung des bereits Gedachten, gehöre persönliche Konsequenz eben dazu. Ein typischer Tauschner-Satz, die Art von Äußerung, auf die Breugmann mit einem süffisanten ›Hört, hört‹ reagiert hatte, als Bernhard und er noch regelmäßig aneinandergerieten. Hartmut solle ihm jederzeit willkommen sein im neuen Domizil, schrieb er außerdem. Seitdem sind drei Jahre vergangen, in denen Hartmut gelegentlich daran gedacht hat, den Kontakt wieder aufzunehmen und Bernhard zu fragen, was genau er mit ›jemand wie Du‹ gemeint habe. Weil Ruhe im Büro aber zu einer Sache von Minuten geworden ist, blieb die Frage unbeantwortet. Ein Argument in Bernhards Sinn: Was ist zu erreichen an einem Arbeitsplatz, wo das eigentlich Wichtige untergeht im Ansturm des momentan Dringenden?

Obwohl sein Rücken schmerzt von der Nacht auf einer zu weichen Matratze, fühlt Hartmut sich aufgekratzt und voller Energie. Die letzten grauen Wohnblocks bleiben zurück, und der Verkehr beginnt dreispurig zu fließen. Schneller als erwartet liegt Paris hinter ihm. Vor zwei Tagen hat er verkatert am Steuer gesessen und auf die schmalen Autobahnen von Belgien geschaut, jetzt stellt sich die angenehme Eintönigkeit wirklichen Reisens ein. Die Landschaft besteht aus abgeernteten Feldern und kleinen Waldstücken, so flach und offen, dass der Horizont darin zu verschwinden scheint. Kurz hinter Orléans rät die Frauenstimme seines Navigationsgeräts:»Folgen Sie dieser Straße noch sehr lange«, und Hartmut sagt» Okay «und legt eine neue CD ein. Die Wolkendecke wird dünner und das Licht heller. Hinweistafeln auf berühmte Bauwerke säumen die Strecke, der französische Überfluss an Kulturgütern, die seinem Blick verborgen bleiben. Bernhard wird Augen machen. Während Hartmut auf der mittleren Spur nach Süden rollt, trommeln seine Fingerspitzen den Takt der Musik aufs Lenkrad. Hättest du nicht gedacht, hört er sich sagen. Ziemlich spontan für jemanden wie mich.