Wie grundlegend die Universitäten sich damals zu wandeln begannen, ist ihm lange Zeit nicht aufgefallen. Im Rückblick findet er das schwer verständlich, aber mit Bernhards Berufung hatte sich vor allem die Atmosphäre am Institut verändert, und zwar zum Positiven. Da ihre Büros nebeneinander lagen, ergab es sich zwanglos, dass sie zusammen in die Mensa gingen und die dort begonnenen Debatten im Flur fortsetzten. Mit dampfenden Kaffeetassen in der Hand, zwischen Tür und Angel. Bernhard Tauschner war ein leidenschaftlicher Diskutant, der gerne hoffnungslose Standpunkte bezog und sie mit Verve und Dickköpfigkeit verteidigte. Die Pläne für ein gemeinsames Kolloquium nahmen allmählich Gestalt an, als Bernhard erstmals davon sprach, die Universität sei nicht länger der richtige Ort für ihn. Hartmut erinnert sich an eine Unterredung, die in seinem Büro stattfand und hauptsächlich aus Pausen bestand, in denen sie beide aus dem Fenster sahen und er sich ermahnen musste, für die Klagen des Kollegen Interesse aufzubringen. Nicht nur an den Unis kamen die Dinge ins Rollen, zu Hause auch. Am Vortag waren Maria und Philippa so heftig aneinandergeraten, dass seine Tochter Zuflucht bei einer Freundin gesucht hatte. Außerdem war es kein Ausweis von Konsequenz, sondern von Verwöhntheit und Naivität, einen gut dotierten Arbeitsvertrag kündigen zu wollen, der noch fast drei Jahre lief. Seine Finger in der Tasche spielten mit dem Handy. Reiß dich zusammen, hätte er am liebsten gesagt. Mach deinen Job! Zu Hause lag Maria deprimiert im Bett, und er musste mit Philippa sprechen, aber die hob nicht ab.
Tu, was du willst, sagte er schließlich.
«Tu, was du willst. «Als ob ihm nicht klar gewesen wäre, dass jemand wie Bernhard Tauschner genau das tun würde. Ein halbes Jahr später war er weg.
Auf der Höhe von Poitiers wird es blau über der Landschaft. Kleine Ortschaften dämmern in der Sonne, und Nina Simone singt: I wish you could know what it means to be me. In der Ferne stehen schneeweiße Wolken, wie Gipfel in glasiger Höhenluft. In sachten Wellen und gedeckten Farben zieht sich das Land dahin. Maispflanzen stehen auf den Feldern und manchmal Sonnenblumen mit schwarz verdorrten Blüten.
Der Vormittag treibt vorüber.
Zweihundert Kilometer vor Bordeaux ist die CD zum zweiten Mal durchgelaufen. Hartmuts Rückenschmerzen werden stärker und der Durst ebenso. Die Außentemperatur klettert unaufhaltsam nach oben. Er betätigt den Blinker, nimmt den Fuß vom Gas und biegt ab auf den nächsten Rasthof. Eine schmucklose Grünanlage trennt die Parkplätze von der Tankstelle, Urlauber sitzen auf massiven Holzbänken und bedienen sich aus ihren Kühltaschen. Im Schatten hoher Pappeln und Kastanien spielen Kinder. Hartmut findet eine freie Parkbucht und spürt die Luft wie einen heißen Hauch über seine Unterarme streichen, als er den Wagen verlässt. Vor einem Wohnwagen aus Münster sitzt eine vierköpfige Familie um den Campingtisch, als stünde er im heimischen Esszimmer.
Nachdem er sich auf der Herrentoilette das Gesicht gewaschen hat, kauft er einen Kaffee und setzt sich vor die getönte Fensterfront. Mütter mit kleinen Kindern und einem gestressten Lächeln im Gesicht hasten zu den Wasch- und Wickelräumen. Während Hartmut die fettigen Schlieren von zu viel Kaffeesahne verrührt, wird ihm klar, dass zum ersten Mal seit Jahren weder Maria noch Philippa, auch nicht Ruth oder Frau Hedwig wissen, wo er sich befindet. Am Morgen im Hotel hat er überlegt, wenigstens Bernhard seinen Besuch anzukündigen, dann aber lediglich die Adresse des Lokals notiert. Die Taverne verfügt über eine weinrot unterlegte und geschmackvoll gestaltet Website, auf der alleine die Fotogalerie den guten Eindruck stört. Ausgelassen feiernde Gäste, die begeistert Siegeszeichen machen und ihre Getränke in die Kamera halten. Wo der Besitzer sich zeigt, sieht er gut gebräunt und ansonsten unverändert aus. Das hagere Gesicht mit den wachen Augen, aus denen eine ironische Distanz zur Umwelt spricht. Die Ordinarien am Institut hatten ihm das als Überheblichkeit ausgelegt und nicht verziehen.
Wird Bernhard sich freuen über den unangemeldeten Besuch? In der Ferne kann Hartmut ein Stück Autobahn ausmachen, flimmernd in der Mittagshitze. Im nächsten Augenblick zuckt er zusammen, weil das Handy in seiner Hosentasche zu vibrieren beginnt.
›Maria‹ steht auf dem Display.
Im ersten Moment ist er zu überrascht, um das Gespräch entgegenzunehmen. Wann und worüber haben sie zuletzt gesprochen? Wo vermutet Maria ihn, und von wo ruft sie an? Hilflos blickt sich Hartmut im betriebsamen Rasthof um. Die schwarze Küchenhilfe hinter der Theke muss schon vorher dort gestanden haben, aber erst jetzt nimmt er sie wahr. Über dem blauen Kittel balanciert sie einen Turban aus Zöpfen und bunten Perlen und hantiert mit ihrer großen Schöpfkelle. Kopenhagen, Bonn, eine SMS mit Grüßen und Küssen. Sie wollten nach Spanien fliegen. Hartmut atmet tief durch und drückt auf den grünen Knopf.
«Hallo.«
«Hallo. Ich dachte schon, du bist nicht zu sprechen. Wobei störe ich dich?«
In der Leitung rauscht es, aber das ruhige Timbre von Marias Stimme lässt auch ihn augenblicklich ruhiger werden. Über dem Zeitschriftenregal steht in bunten Lettern das Wort Évasion.
«Bei nichts«, antwortet er.»Einer Tasse Kaffee und der Frage, was meine Frau gerade macht. Schön, dass du anrufst.«
«Ich hab heute so viel Kaffee getrunken, mein Herz macht komische Sprünge.«
«Stress in Kopenhagen?«
«Eigentlich wär’s mir lieber, du würdest erzählen. Hier ist es unerfreulich. «Sie seufzt, aber dann berichtet sie doch, von Problemen mit dem Bühnenbild und ständigen Querelen um die Probenzeiten. Es ist ein internationales Festival anlässlich der Einweihung des neuen Theaterhauses, und natürlich will jedes Ensemble mindestens ein Mal auf der großen Bühne proben. Falk Merlinger scheint allerdings zu glauben, dass seiner Truppe eine Bevorzugung gebührt, und Maria gibt zu, sich manchmal für sein Auftreten zu schämen. Hartmut hört zu. Bevor das Telefon zum meistbenutzten Kanal ihrer ehelichen Kommunikation wurde, hat er ausgesprochen gerne mit seiner Frau telefoniert. Ihre Stimme klingt gut so nah an seinem Ohr. Sexy, um genau zu sein. Ein einziges Mal, und ohne es ihr hinterher zu gestehen, hat er im Zimmer eines Tagungshotels onaniert, während Maria von ihrem Tag berichtete. Jetzt überlegt er, ob die Hintergrundgeräusche seinen Aufenthaltsort verraten, aber Maria scheint nichts zu bemerken. Vielleicht vermutet sie ihn in der Bonner Mensa.
«Ich wünschte, du wärst hier«, schließt sie, bevor er auf das Thema Merlinger anspringen kann.»Ich mag es nicht, alleine im Hotel zu schlafen. Wenn dich nichts Dringendes in Bonn hält, könntest du spontan einfliegen.«
«Um im Hotelzimmer auf dich zu warten?«
«Mir würde das gefallen.«
«Was mache ich den ganzen Tag?«
«Bring Arbeit mit. Am besten eine schlechte Hausarbeit, aus der du mir abends vorlesen kannst.«
«Apropos: Dein Freund Charles Lin hat seine Dissertation abgegeben.«
«Mein Freund Charles Lin«, lacht sie.»Auf Deutsch?«
«Sino-Deutsch. Konfuzianisches Denker-Esperanto. Der internationale Jargon der akademischen Legasthenie. «Der unerwartete Anruf hat ihn aufgeschreckt, aber schon nach wenigen Minuten glaubt er, dass nichts als ein Gespräch mit seiner Frau dem Moment zur Vollkommenheit gefehlt habe. Soweit die steife Rückenlehne es erlaubt, lehnt Hartmut sich auf seinem Stuhl zurück, streckt die Füße unter den Tisch und genießt das Wissen, von Maria vermisst zu werden.