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«Philosophen aller Länder, vereinigt euch und promoviert bei Hartmut Hainbach«, sagt er.»Ich bin wie die AOK, ich muss jeden nehmen.«

«Du klingst nicht genervt.«

«Ich werde altersmilde. Wo bist du gerade?«

«Ich stehe vor diesem riesigen neuen Theater in der Sonne und rauche meine erste Zigarette. Von der Stadt hab ich noch nicht viel gesehen, aber sie scheint schön zu sein. Sollten wir uns mal vornehmen: eine Nacht in Hamburg, ein Wochenende in Kopenhagen. Oh, und ist die Rechnung von meiner Frauenärztin gekommen?«

«Ja«, sagt er aufs Geratewohl.»Glaub schon.«

«Leg die zur Seite, da will ich erst nachschauen. Beim letzten Mal hat sie zu viel abgerechnet.«

«Okay. «Mit der freien Hand greift er nach den Blättern einiger künstlicher Blumen auf der Fensterbank. Fühlt Plastik zwischen Daumen und Zeigefinger und denkt an Sandrines Befremden, als er ihr den Strauß überreicht hat. Wieso war ihm nicht selbst klar, dass Blumen das falsche Mitbringsel sind?

«Ich hab das Gefühl, wir hätten uns schon sehr lange nicht gesehen«, sagt Maria.»Länger als eine Woche.«

«Geht mir immer so. Wie war eigentlich dein Essen neulich mit Peter Karow?«

«Nett. «Sie atmet Zigarettenrauch aus, ein leises Rauschen im Hörer. Dann entsteht eine Pause, als wüsste Maria genau, dass die Frage nicht so beiläufig gemeint war, wie er sie hat klingen lassen. Hinter der Theke verharrt die schwarze Frau vollkommen reglos, in der linken Hand einen Teller, aber vor sich keinen Kunden, den sie bedienen könnte. Ihr Blick ist zum Eingang gerichtet, durch den schubsend und drängelnd einige Jugendliche kommen. Soll er nachhaken und fragen, worüber Maria und Peter gesprochen haben?

«Ich soll dich natürlich grüßen«, kommt sie ihm zuvor.»Erinnerst du dich noch, wie du ihn zum ersten Mal getroffen hast? An das Buch, das ich ihm mitgebracht hatte? Den Nietzsche-Band.«

«Ich erinnere mich«, sagt er. Es war während eines Ausflugs nach Ost-Berlin im Frühjahr 1985. Wenige Minuten nachdem Maria und er einander zum ersten Mal geküsst hatten, wurden sie von Peter Karow von einer Bahnstation abgeholt, die damals Marx-Engels-Platz hieß. Heute heißt sie Hackescher Markt. Merkwürdige Symmetrie: der Ort ihres ersten und bisher letzten Kusses.

«Siehst du, ich hatte es vergessen. Offenbar hatte ich das Buch für ihn über die Grenze geschmuggelt und dann gesagt, du wärst es gewesen. War es so?«

«Genau so. «Vorher hatte er jahrelang im Westteil der Stadt gearbeitet, ohne sich für das Leben hinter der Mauer zu interessieren. Maria hingegen fuhr oft nach drüben, um Falks Manuskripte unters Theatervolk zu bringen. An der Volksbühne haben sie und Peter Karow einander kennengelernt. In der guten alten Zeit des Kalten Krieges.

«Wie kommst du jetzt darauf?«, fragt er.

«Bis vor drei Tagen hat Peter geglaubt, du hättest ihm das Buch mitgebracht. Wir kamen drauf, weil er meinte, er habe von Anfang an diesen positiven Eindruck von dir gehabt. Wegen des Buches.«

«Und?«

«Ich kann beim besten Willen nicht verstehen, warum ich das gesagt haben soll. Was war der Zweck? Wollte ich euch zwei verkuppeln?«Ein seltener Anflug von Albernheit, der Hartmuts Sehnsucht augenblicklich verstärkt. Einen Moment lang erwägt er, umzukehren und hoch nach Dänemark zu fahren. Durch die fremde Stadt streifen, bis Maria vom Theater kommt. Gemütlich essen gehen, die Optionen auf den Tisch legen und sie in Ruhe mit seiner Frau besprechen. Außerdem wünscht er zum ersten Mal, er hätte auf das Gewühle mit Katharina Müller-Graf verzichtet. Dann würde es ihm jetzt leichter fallen, zu sagen, wo er ist.

«Als ich dich hinterher gefragt habe, meintest du, Peter hat diese Art, gerührt und dankbar zu sein, selbst für Kleinigkeiten. Und dass es dir irgendwie unangenehm sei. «Zu dritt sind sie schließlich in Peters Wartburg gestiegen, um sich in der Wohnung von irgendwem eine szenische Lesung anzuhören. Hartmut saß hinten mit dem Geschmack ihres ersten Kusses auf den Lippen, vorne kramte Maria in ihrer Tasche und sagte: Hartmut hat dir was mitgebracht. Die Geburt der Tragödie, wenn er sich richtig erinnert. Nicht offiziell verboten in der DDR, aber schwer zu bekommen. Jetzt wundert er sich, dass er bei ihrem Abschied vor einer Woche nicht daran denken musste. Wahrscheinlich hat der Platz vor dem Bahnhof sich zu sehr verändert.

Maria atmet Rauch aus und ist bereit für einen Themenwechsel, in dem die baldige Beendigung des Gesprächs anklingt.

«Gibt’s in Bonn was Neues?«

«Ich werde jemanden kommen lassen, der den Garten in Ordnung bringt. Wahrscheinlich muss der Kirschbaum vor dem Haus gefällt werden, sonst greifen die Wurzeln das Fundament an.«

«Hm-m. Sagt wer?«

«Dein Mann. Überhaupt überlege ich, das Haus zu verkaufen.«

«Bitte?«

Etwas in Marias Tonfall — ihre Sehnsucht nach ihm, die mädchenhafte Albernheit, dann die Andeutung von Rückzug — hat ihn zu der Äußerung provoziert. Er setzt sich aufrecht hin und stützt beide Ellbogen auf die Tischplatte.

«Es ist zu groß für mich alleine«, sagt er so beiläufig wie möglich.

«Okay. Wann bist du auf diesen Gedanken gekommen?«

«Kein Gedanke, sondern eine Tatsache. Es ist zu groß für mich.«

«Kann ja sein, aber es ist nicht fair, mich damit am Telefon zu konfrontieren. Ich muss gleich wieder rein.«

«Ich hab noch nichts unternommen, Maria, nur eine Überlegung angestellt. Ein bisschen erstaunt es mich, dass… Ich meine, man kann nicht behaupten, du würdest an dem Haus hängen.«

Es könnte der Beginn eines Streits sein, aber wahrscheinlich hat Maria keine Zeit dafür, oder sie ist nicht in der richtigen Stimmung.

«Ich hab ein komisches Gefühl«, sagt sie.»So denkst du nicht: Es ist zu groß für mich, also verkaufe ich’s eben. Es ist unser Haus. Außerdem bist du nicht der Einzige, der in letzter Zeit nachgedacht hat.«

Die Jugendlichen kommen von den Toiletten zurück, und Hartmut dreht den Kopf zur Seite. Durch die getönten Fensterscheiben sieht das Sonnenlicht draußen trüb und hart aus.

«Ich höre«, sagt er.

«Wir können jetzt nicht darüber sprechen. Ich muss wirklich wieder rein. Wir reden nächste Woche, okay? Hast du schon nach Flügen geschaut?«

«Noch nicht.«

«Aber du willst mit mir nach Spanien fliegen? Zu Philippa, und dann weiter nach Portugal. Das gilt weiterhin, ja?«

«Ja«, sagt er.»Unbedingt.«

«Und ich will, dass wir unser Leben anders einrichten. Ich weiß nicht wie, aber jedenfalls so, dass keiner von uns darunter zu leiden hat. Schaffen wir das?«

Zuerst denkt er, dass Peter Karow nicht dichtgehalten und ihr von dem Treffen im Verlag erzählt hat. Warum sonst sollte er die Eindrücke ihrer Begegnung vor über zwanzig Jahren hervorgeholt haben? Aber dann würde Maria nicht um den heißen Brei herumreden, sondern zur Möglichkeit seines Umzugs Stellung beziehen. Wüsste sie von Peters Angebot, würde sie entweder gar nichts sagen oder: Komm nach Berlin! Im ersten Moment fällt Hartmut nichts Besseres ein, als die Worte anlässlich ihres Umzugs zu zitieren:»Wir sind stark genug, wir schaffen das.«

«Hartmut, hab ich einen Fehler gemacht? Ich meine nicht, ob ich dir weh getan habe oder ob es schwierig für dich ist, mit der Situation umzugehen. Ich meine: Habe ich einen Fehler gemacht?«

«Soweit ich sehe keinen, der sich nicht korrigieren ließe. Wir finden einen Weg. Zusammen.«

«Versprich mir das.«

«Komm aus Kopenhagen zurück, und dann reden wir. «Auf einmal spürt er einen verdächtigen Druck hinter den Augäpfeln und muss zwei Mal schlucken, bevor er weitersprechen kann.»Gibt’s Neuigkeiten von unserer Tochter?«