«Die letzte Mail kam vor einer Woche, die mit dem Witz. Aber ich hab meine Post seit zwei Tagen nicht lesen können.«
«Ich werde mich bei ihr melden. Bestimmt hat sie einen Freund. Was meinst du?«
«Ich muss los, Hartmut. Pass auf dich auf, okay.«
«Du auch. Lass dich nicht zu sehr stressen vom großen Diktator.«
Noch einmal scheint Maria Luft zu holen, um etwas zu sagen, aber dann klickt es bloß, und die Verbindung ist unterbrochen.
Zögernd nimmt Hartmut das Handy vom Ohr. Obwohl er erst vor einer Viertelstunde auf dem Klo gewesen ist, muss er schon wieder. Außerdem spürt er ein Rumoren im Magen. Ihm gegenüber, auf der Titelseite von L’Équipe, ballt jemand triumphierend die Faust. Gedankenverloren reibt Hartmut sein Telefon über den aufgerollten Hemdsärmel und klappt es zusammen. Im Aufstehen leert er seine Kaffeetasse und tastet nach dem Autoschlüssel. Wasser muss er kaufen, tanken nicht. Nachdenken kann er auch unterwegs. Vor ihm liegt immer noch ein langer Weg.
Als Hartmut die Küste fast erreicht hat, beginnt die Sonne zu sinken. Flach und weit streckt sich das Land dem Meer entgegen. Seit Bordeaux hinter ihm liegt, glaubt er, den nahen Atlantik zu erahnen hinter dem nächsten Stück Pinienwald, rechts der meist pfeilgeraden N 10, aber zu sehen ist nur ein tiefblauer Himmel, der am Horizont auf weißen Wolkenbergen sitzt. Die Verspannung in seinen Schultern wird immer schmerzhafter, bis endlich die ersehnte Abzweigung nach Mimizan auftaucht. ›La fôret c’est la vie‹ verkünden Schilder entlang der schmalen Landstraße, auf der sein Navigationsgerät die letzten Kilometer herunterzählt. Der trockene Boden sieht aus wie aufgescheuert und macht die darunter liegende Sandschicht sichtbar. Hinter dem Ortsschild liegt ein schmuckes Städtchen mit gepflegten Gärten und einem durch Ladenzeilen definierten Zentrum. Daneben die obligatorische Kirche. Viel Grün wächst zwischen den Häusern, ein paar ältere Urlaubsgäste sitzen unter den weinroten Markisen des Hôtel du Centre. Erst einige Kilometer weiter, im maritimen Ableger Mimizan-Plage, wird Hartmut von der Geschäftigkeit eines Urlaubsortes in der Hochsaison empfangen. Böige Meeresluft und französische Wortfetzen wehen ihn an, als er gegenüber dem Tourismusbüro seinen Wagen abstellt und aussteigt.
Der kleine Ort liegt im Rücken einer langgezogenen Düne. Das Meer bleibt dahinter verborgen, Scharen von Strandbesuchern kommen Hartmut entgegen, als er sich zu Fuß auf den Weg macht. Die ersten Heimkehrer offenbar, die gerollte Sonnenschirme und Handtücher tragen, Schwimmtiere und müde Kinder. Überall in der sanft ansteigenden Fußgängerzone erklingt Musik, liegen auf Verkaufsständen bunte Waren aus und locken Terrassen die Urlaubsgäste an. Es riecht nach Kaffee und frischen Crêpes. Mit einer Miene, als wäre sein Umsatz ihm gleichgültig, verkauft ein Mann mit grauem Zopf Silberschmuck und tibetische Gebetsfahnen. Ein kleiner Junge beginnt zu weinen, weil seine volle Eiswaffel auf dem Boden liegt. Gute Laune und die kleinen Dramen des Alltags. Nicht mehr lange, bis die Restaurants sich zu füllen beginnen.
Auf halbem Weg die Gasse hinauf entdeckt Hartmut den roten Neonschriftzug der Taverne. Kein Weinlokal, das erkennt er auf den ersten Blick. Der Eingang führt über eine hölzerne Veranda, die wie eine Tribüne die Promenade flankiert, davor stehen ein halbes Dutzend Tische unter weißen Sonnenschirmen. Der Innenraum ist klein und schummrig, außerdem fast leer, wie Hartmut feststellt, als er in der offenen Tür stehen bleibt. Zwei alte Ventilatoren bewegen die von Reggaemusik erfüllte Luft, und ein langhaariger Barkeeper kreiert neue Drinks. Gießt sich ein kleines Glas voll, nippt daran und schüttet den Rest weg. Von Bernhard Tauschner keine Spur, und hätte Hartmut ihn heute Morgen nicht auf den Fotos erkannt, würde er ihn an diesem Ort auch nicht vermuten.
Bei der dunkelhaarigen Kellnerin, die gemächlichen Schrittes an seinen Tisch kommt, bestellt er ein Bier und fragt mit unbeholfenem Akzent nach Monsieur Tauschnère. Ihre Antwort und den auf die Armbanduhr tippenden Zeigefinger interpretiert er so, dass Bernhard bald in der Bar auftauchen wird. Hartmut bedankt sich, streckt den Rücken und drückt mit beiden Händen gegen seine Wirbelsäule. Oberhalb der Nieren konzentriert sich das Gefühl, zu lange in derselben Position gesessen zu haben. Zwei Jahre lang ist er regelmäßig zur Massage gegangen, geholfen hat es wenig. Von der Anschaffung eines Stehpults spricht er gelegentlich, ohne sich darum zu kümmern. Jetzt ist er froh, die Etappe bewältigt zu haben. Atmet tief durch und lässt die Szenerie auf sich wirken.
Erst als das Bier vor ihm steht, fällt ihm auf, wie groß sein Durst ist.
Braun gebrannte junge Frauen haben sich Tücher um die Hüften geschlungen, die Männer tragen offene Hemden über weiten Boxershorts. In Grüppchen und mit Gläsern in der Hand stehen sie vor einer schmalen Theke. Was Hartmut bekannt vorkommt, ist nicht der Ort, sondern die wohltuende Mattigkeit der Ankunft. In Rapa geht er immer als Erstes hinüber in die alte Dorfhälfte, um im Café von Marias Tante ein kühles Sagres zu trinken. Auf dem rückwärtigen Balkon, mit Blick über die karge Landschaft der Serra da Estrela. Da er in Bonn nur selten Bier trinkt, versetzt ihn der Geschmack in seinem Mund augenblicklich in Ferienstimmung. Er ist im Süden. Der Strom der Badegäste und Flaneure wird stetig dichter. Drinnen singt Bob Marley I Shot the Sheriff.
Das gehört zu den Dingen, über die zwischen Bernhard und ihm Einigkeit herrschte: Allen südwärts gerichteten Sehnsüchten soll man nachgeben, sooft es geht. Bernhards Vater war Richter in der Nähe von München, er selbst spielt Geige und malt. Nach Bonn hatte man ihn seinerzeit berufen, weil die neuere französische Philosophie im Lehrplan zwar vorkommen, sich darin aber nicht zu sehr ausbreiten sollte. Der Poststrukturalismus sei der Epilog einer Verirrung, lautete Herweghs keineswegs isolierte Meinung, eine ephemere Erscheinung, für die eine Juniorprofessur völlig ausreichte. Fünf Jahre, bis die nächste Mode kommt. Dass Bernhard Tauschner ein humanistisches Gymnasium besucht hatte, die alten Sprachen konnte und Derrida trotzdem ernst nahm, machte ihn umso verdächtiger. Ein höflicher junger Mann, gut gekleidet und breit gebildet, der in den grauen Eminenzen des Instituts Nachtwächter sah, die sich als Chefs aufspielten.
«Verrückt. Heute Morgen hab ich an dich gedacht.«
Als Hartmut aufschaut, steht Bernhard neben seinem Tisch. Die Sonnenbrille hat er abgenommen und muss blinzeln gegen die Helligkeit. Sein Gesicht ist noch schmaler geworden, durch die kurzen braunen Haaren laufen silbergraue Strähnen. Obwohl er die Arme waagrecht in der Luft hält, sieht er weniger überrascht aus, als Hartmut gehofft hat. Eher still amüsiert. Seinerseits überrumpelt steht Hartmut auf und weiß nicht, wie er den anderen begrüßen soll.
«Du hast geschrieben: jederzeit«, sagt er und spürt das schiefe Grinsen, mit dem er versucht, seine aufkommenden Emotionen zu überspielen.»Also dachte ich mir, ich komme vorbei auf ein Getränk. Schön, dich zu sehen.«
Sie schütteln einander die Hand, lachen verlegen und machen aus dem Handschlag eine ungelenke Umarmung. Anders als seine Gäste trägt Bernhard keine Strandkleidung, sondern ein weißes Hemd zur beigen Leinenhose und dunkle Mokassins. Es fühlt sich merkwürdig an, das Rasierwasser eines alten Bekannten wiederzuerkennen.
«Das ist wirklich eine Überraschung«, sagt Bernhard, als sie einander wie vorher gegenüberstehen.»Ich hab an dich gedacht, weil ich mit jemandem über einen Film gesprochen habe. Da fiel mir ein, du hattest mir davon erzählt. Wilde Erdbeeren. Ich hab ihn immer noch nicht gesehen.«
«Nicht der beste, aber ein typischer Bergman-Film. Ingrid Thulin ist zauberhaft.«
«Irgendwann werde ich ihn mir ansehen. «Im Platznehmen gibt Bernhard der Bedienung ein Zeichen, stützt die Hände auf den Tisch und sieht Hartmut fragend an.»Und du — bist gerade angekommen, oder schon gestern? Mit dem Auto?«