«Ja, aus Paris.«
«Aus dem grauen Paris. Alleine?«
Nickend hebt Hartmut die Hände.
«Vor zehn Minuten eingetroffen. Die Adresse hab ich mir im Internet besorgt. Heute Morgen im Hotel, alles ganz spontan.«
«Bist du auf der Durchreise nach Portugal?«
«Mal sehen, vielleicht. In erster Linie bin ich deinetwegen gekommen. Wollte mir dein Weinlokal anschauen.«
Bernhard macht eine kreisende Kopfbewegung, der Hartmut entnimmt, dass er lieber nicht sofort darauf angesprochen worden wäre. Seine blauen Augen haben etwas Durchdringendes, das manche Studenten einschüchternd fanden. Als wollte er alles von einem wissen, hat Maria einmal gesagt. In der Tat fragt Bernhard gern und viel und behauptet selbst, es sei ein inneres Unbehagen, das er dadurch abzuschütteln versuche. Besonders Fremden gegenüber.
«Hat früher einem Studienfreund gehört«, sagt er jetzt,»der es loswerden wollte. Ein Weinlokal hätte es werden sollen, und ich hab ein paar gute Flaschen im Angebot. Leben könnte ich davon nicht.«
Die Bedienung bringt ein zweites Bier. Sie stoßen an und trinken, danach fasst Bernhard die letzten drei Jahre in wenigen Sätzen zusammen: Übernahme des Lokals mit dem Ziel, den anspruchsvolleren Urlaubsgästen eine feste Adresse zu bieten; die schnell reifende Einsicht, dass die Zahl der Kunden nicht ausreichte für ein breites Angebot. Jetzt heule er mit den Wölfen und trinke die guten Weine selbst. Wie früher untermalt er seine Rede mit Gesten, die ein väterliches Erbe sein könnten. Ruhig und gemessen. Nachdem er seinen Bericht beendet hat, kommt er auf die Frage nach dem Anlass von Hartmuts Besuch zurück.
«Alleine unterwegs in Frankreich, das klingt ungewöhnlich. Wo ist deine Frau?«
«Maria arbeitet. Ich musste raus aus Bonn. «Um nicht mit der Tür ins Haus zu fallen, begnügt Hartmut sich mit einer unbestimmten Geste in Richtung seines Kopfes.»Kleine Auszeit vom Reformstress. Es ist seit deinem Abgang nicht besser geworden.«
«Wo arbeitet sie?«
«An einem Berliner Theater. Falk Merlinger, du erinnerst dich. Im Moment ist sie mit der Truppe in Kopenhagen.«
«Okay. Aber ihr seid noch…?«Bernhards Hände hängen in der Luft, als wüsste er nicht, wie man das Wort ›zusammen‹ gestisch ausdrückt.
«Seit zwei Jahren führen wir eine Wochenendbeziehung. Angeblich tut uns das gut. Bewahrt uns vor dem Einrosten.«
«Die Euphorie steht dir ins Gesicht geschrieben.«
«Die ganze Geschichte erzähl ich dir später. Im Moment bin ich gedanklich noch bei deiner. Du betreibst also eine Bar. «Hartmut schaut sich um, als würde ihm das erst jetzt auffallen.
«Ich weiß, was du meinst. Eine Bar.«
«Es interessiert mich einfach. Ist es besser als an der Uni?«
«Es war für den Übergang gedacht, von der Uni in was Besseres. Hätte kein Dauerzustand werden sollen. Was als Nächstes kommt… on verra. Sparen wir uns die langen Geschichten für später auf. «Lächelnd lehnt er sich in seinem Stuhl zurück. Vielleicht in Reaktion auf Hartmuts Blick fügt er hinzu, dass er gutes Geld verdient und im letzten Frühjahr ein Haus gekauft habe. Eine Autostunde landeinwärts, mitten in der Heide. Während der Saison wohne er in einer kleinen Wohnung über der Bar, von Herbst bis Frühjahr schaue er nur ab und an vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Daraufhin schweigen sie, und Hartmut glaubt, in der Ferne den beharrlichen Takt der Wellen zu hören. Der Betrieb in den Straßen nimmt weiter zu. Gegenüber der Taverne wird Eis verkauft in hundert verschiedenen Sorten. Bob Marley singt den Redemption Song.
Hier sitzen wir, denkt Hartmut zufrieden. Drei Jahre sind eine Zeitspanne, in der Erwachsene sich verändern, ohne dass man sagen könnte wie. Schon in Bonn war Bernhard ein reifer und dabei merkwürdig unfertiger Mensch. Ebenso feinsinnig wie ungeschickt, verliebt in alles Mehrdeutige, aber mit festen Überzeugungen und einer bisweilen schroffen Art, sie zu äußern. Mit vierzig hatte er begonnen, Chinesisch zu lernen, und auf die Frage nach dem Warum geantwortet, man könne schließlich nie wissen. Hauptsache keine Scheuklappen.
Jetzt zieht ein nachdenkliches Lächeln über sein Gesicht.»Ich hab immer gedacht, wenn überhaupt, dann wirst du vorbeikommen, ohne dich vorher anzumelden. Es passt nicht zu dir, ist aber die einzige Möglichkeit.«
«Du kennst mein Leben: Bonn und Portugal. Was dazwischen liegt, ist mir nur vom Drüberfliegen bekannt.«
«Also gar nicht. Wie geht’s Philippa?«
«Gut. Nehme ich jedenfalls an. Sie studiert in Hamburg und schneit nur selten in Bonn vorbei. Im Moment lernt sie Spanisch in Santiago. Falls sie Zeit hat, fahre ich von hier aus für ein paar Tage hin.«
«Bin ich in Bonn so was wie eine Persona non grata?«Die Frage untermalt Bernhard mit einem Hochziehen der Augenbrauen, das nicht erkennen lässt, wie ernst er sie meint.
«Die Parteilinie lautet, du hast dich eben verzettelt. Deine Vorstellungen von Universität passen nicht ins einundzwanzigste Jahrhundert. Sie ruhen sanft auf dem Friedhof von Bologna.«
«Solange man im Namen des einundzwanzigsten Jahrhunderts spricht, darf man heute wirklich jeden Unsinn behaupten.«
«Zum Beispiel den: Menschen sind Relaisstationen eines fortlaufenden Austauschs und der lebenslangen Verarbeitung von Informationen. Der Satz fiel in einer Ringvorlesung zum Thema Kommunikation, an der ich letztes Jahr mitwirken musste. Informationen, nicht Gedanken.«
«Relaisstationen, nicht Persönlichkeiten. Was glaubst du?«
«Was ich dir am meisten verübele, ist, dass Herwegh und Breugmann hinterher auf deinen Fall verweisen konnten, um für ihr Steckenpferd zu werben. Eine Habilitation hätte dir deine Flausen nämlich gründlich ausgetrieben, davon sind sie bis heute überzeugt.«
Dafür hat Bernhard nur ein müdes Lächeln übrig.»Unverbesserlich, die beiden. Manchmal vermisse ich sie.«
Inzwischen sind um sie herum alle Tische besetzt, größtenteils von Gruppen junger Leute. Die Sonne steht tief und schickt ihre Strahlen über den Ort. Ein angenehm warmes Zwielicht, das aus dem lodernden Himmel fließt.
«Was denkst du selbst?«, fragt Hartmut.»Gilt immer noch, dass du den Schritt nicht bereust?«
«Mal so, mal so. Unterm Strich bleibt mir mehr Zeit für die Arbeit als dir. Und das ohne den Zwang zum ständigen Publizieren.«
«Arbeit? Tatsächlich.«
«Was denn sonst?«Zum ersten Mal reagiert Bernhard so, wie es ihm seinerzeit in hitzigen Diskussionen unterlaufen ist. Erst nur ein wenig ungehalten, aber reizte man ihn dann weiter, begann er sich zu ereifern, und der Eindruck von Souveränität verschwand hinter einer verständnislosen, leicht angeekelten Miene.
«Ich dachte, du hättest das alles an den Nagel gehängt.«
«Dachtest du. Mir ist das nie in den Sinn gekommen. Ich wollte bloß nicht länger kollaborieren mit diesem schwachsinnigen System. Das ist übrigens, was ich dir am meisten verübele, dass du dich auch noch bereit erklärt hast, die Studienordnung zu entwerfen. Hast du doch, oder?«
Bevor Hartmut antworten kann, kommt die Bedienung und verwickelt Bernhard in ein Gespräch. In der Bar nebenan folgt lautes Johlen auf das Geräusch zerspringenden Glases. Schon acht Uhr vorbei. Auf den Gassen tragen Männer ihre Muskeln zur Schau und blicken jungen Frauen hinterher. Hartmut nimmt einen Schluck Bier. Warum fühlt er sich auf einmal so sehr im Einklang mit sich? Frei von dem Bedürfnis zu widersprechen, sich zu verteidigen, recht zu behalten. Die Verspannung in seinem Rücken ist verschwunden, er möchte das Meer sehen und dann weitertrinken und reden. Erst als Bernhards Angestellte ihn für einige Sekunden mustert, fällt Hartmut auf, dass er still vor sich hin lächelt.
«Pardon«, sagt Bernhard, nachdem er die Besprechung beendet hat.»Für heute Abend ist jemand ausgefallen. Am besten trinken wir aus, dann zeig ich dir ein Hotel. Meine Wohnung ist zu klein, außerdem geht der Trubel bis spät in die Nacht. Wie lange hast du vor zu bleiben?«