Trotz der frühen Stunde stehen Schweißperlen auf seiner Stirn. Wenige Meter vor dem Wasser zieht er Shorts und Hemd aus, dreht beide ins Badetuch ein und legt das Bündel auf seine Schuhe. Ohne Brille wird aus der morgendlichen Szenerie ein Feld mit verwischten Linien, und wie immer fühlt er sich beobachtet, sobald er nicht mehr scharf sieht. Vor ihm wogt und rauscht ein kräftiges Blau, auf das er zugeht, bis ihn der erste kühle Schock an den Beinen trifft. Muscheln und kleine Steine stecken im Boden. Unter seinen Fußsohlen wird der Sand weggespült, strömt das Wasser zurück und macht seinen Gang unsicher. Obwohl er sich darauf gefreut hat, kostet es ihn Überwindung, ins offene Meer hineinzugehen.
Als die Füße den Bodenkontakt verlieren, ist der Strand bereits ein Stück entfernt, eine andere Welt, die hinter davonrollenden Wellenkämmen auftaucht und wieder verschwindet. Die Umrisse von Dünen und Häusern zeichnen sich ab vor dem glänzenden Himmel. Beim Verlassen des Hotels hat er sich an frühere Urlaube erinnert, die gemeinsamen Aufbrüche zum Strand und Philippas morgendliche Ungeduld. Jetzt macht er ein paar kräftige Kraulzüge, bevor er sich der Wucht des Meeres überlässt. Die Wellen heben ihn hoch und lassen ihn sinken, eine starke Strömung hat ihn bereits ein Stück die Küste hinabgetrieben. Das Atlantique liegt direkt hinter der Düne, mit Brille könnte er das rot leuchtende Dach zwischen den Nachbarhäusern erkennen. Gestern Abend war er dort der einzige Alleinreisende zwischen jungen Familien und älteren Ehepaaren, die das zur Halbpension gehörende Menü verzehrten. Ein gemütlicher Speisesaal, zwischen dessen Backsteinwänden ein Hauch kleinbürgerlicher Enge hing; manche Gäste tranken Rotwein mit Eiswürfeln und hielten ihr Besteck wie schweres Werkzeug in den Händen. Zwei unter dem Tisch hechelnde Hunde bekamen ihren Teil der gebratenen Entenflügel ab.
Als Hartmut sich auf den Rücken dreht, hat die Sonne Ringe bekommen. Mit jeder Welle, die unter ihm hinweg zum Strand läuft, zieht es ihn weiter aufs Meer hinaus, aber für den Moment bezwingt er den Drang gegenzusteuern. Treibt mit weit ausgebreiteten Armen dahin und fühlt sich auf angenehme Weise ausgeliefert. Einverstanden mit dem Geschehen. Um neun Uhr gestern Abend ist er in die Taverne zurückgekehrt, wo ein jüngeres Publikum als im Hotel vor neonfarbenen Cocktails saß. Solange Bernhard nicht hinter der Theke aushelfen musste, blieben sie draußen auf der Veranda und tranken eine Flasche Bordeaux, die nicht auf der Karte stand. Das Gespräch drehte sich um die Situation an den Universitäten, von denen Bernhard sprach, als weise er einer früheren Geliebten die Schuld an der Trennung zu. Hartmut nippte an seinem Wein und musste an den energischen Ausdruck in Julia Ravenburgs rotwangigem Gesicht denken: eine kulturell interessierte Unternehmensberaterin mit mehr Bonusmeilen auf dem Konto, als Normalsterbliche im gesamten Leben fliegen. Bernhards Trennung von ihr war in dieselbe Zeit gefallen, in der er seinen Abgang aus Bonn vorbereitet hatte. Zufall oder nicht? Hartmut konnte sich an kein Gespräch darüber erinnern.
Drinnen wiegten sich die ersten Gäste im Takt der Musik. Schwaden von blauem Qualm waberten durch den Raum, den der leuchtende Schriftzug einer Biermarke in fahles Licht hüllte. Draußen saßen Bernhard und er über den Tisch gebeugt gegen den Trubel der Umgebung.
«Nenn es, wie du willst. «Bernhards Finger drehten den langen Stiel seines Weinglases.»Ich sage, es sind sterile Anstalten der Wissensvermittlung geworden. Handlichkeit, klare Disziplingrenzen, und jetzt das alberne Eins-zwei-drei der Module. Wie ein Setzkasten: schicke kleine Teile, die ein hübsch anzusehendes Ganzes bilden. Aber kein Platz für sperrige Gedanken.«
«Du hingegen…«, sagte Hartmut und versuchte, die zwei angetrunkenen Mädchen zu ignorieren, die am Nebentisch miteinander kicherten.»Ich bemühe mich, aber es fällt mir schwer, in einer Bar die bessere Alternative zu sehen.«
«Vergiss die Bar und schau auf die Freiräume, die sie mir lässt. Wer außer mir ist acht Monate im Jahr ohne Verpflichtungen und verdient trotzdem gutes Geld?«Bernhard nahm einen Schluck und schien nicht zu wissen, ob er selbstgefällig oder trotzig klingen wollte.»Außerdem bin ich nicht aus Bonn abgehauen, weil ich unbedingt eine Bar betreiben wollte, sondern weil ich die Nase voll hatte von der ständigen Nörgelei. Im gemachten Nest sitzen und daran herummäkeln. Selbst wenn man damit im Recht ist — wer keine Drittmittelanträge mehr stellen und sich keiner geistlosen Evaluation unterziehen will, muss gehen. Voilà, ich bin gegangen.«
«Hast du noch Kontakt zu Julia?«
«Ab und zu kriege ich eine SMS. Einmal ist sie nach Bordeaux geflogen und mit dem Mietwagen hier heruntergebrettert, um mir ins Gewissen zu reden. Dass es mir nicht um die Steigerung meines Marktwerts geht, war ihr schwer zu vermitteln. Sie hält mich für romantisch. «Eine Einschätzung, die er laut lachend zurückwies. Hartmut dachte an ihre gemeinsamen Abende am Rhein, die entspannte Kumpanei unter Männern, für die er seitdem keinen Ersatz gefunden hatte.
«Seit drei Jahren«, sagte er,»hab ich mit keinem Kollegen ein Glas Wein getrunken. Mit welchem auch? Ich glaube, das fehlt mir mehr als die verloren gegangene Freiheit an unseren Lehranstalten.«
«Weißt du, was wir machen?«Bernhard griff nach der Flasche und schenkte nach.»Wir fahren übers Wochenende in mein Haus. Vielleicht hat Géraldine Zeit. Wir setzen uns auf die Terrasse und trinken Wein. Was meinst du? Wir könnten morgen losfahren.«
«Wenn du’s einrichten kannst. Géraldine ist…?«
«Meine Freundin. Seit letztem Jahr erst. Im Sommer sehen wir uns selten, weil sie in Mont-de-Marsan wohnt und ich meistens hier bin. Worüber lachst du?«
«Nichts. Hab mir schon gedacht, dass deine Zufriedenheit noch andere Gründe haben muss als das Geld, das du hier verdienst. «Hartmut nahm sein Glas und hielt den Zeitpunkt für gekommen, endlich über das zu sprechen, was ihn selbst aus Bonn fortgetrieben hatte.»Übrigens denke ich ebenfalls über einen Ausstieg aus der Uni nach. Ähnlich wie du, auch wenn ich keine Bar aufmachen werde. Ein Berliner Verlag hat mir ein Angebot gemacht. In gewissem Sinn ist das der Anlass meiner Reise.«
Das schrille Geräusch einer Trillerpfeife ruft ihn zurück in die Gegenwart. Eine Weile hat er sich dem Wasser und seinen Gedanken überlassen, jetzt blickt er auf und erschrickt über die Entfernung zum Strand. Gelblich hell und endlos weit erstreckt sich die Küste in beide Richtungen, davor hat sich ein breiter Wasserstreifen geschoben. Die Silhouetten der fernen Häuser sehen fremd aus. Ob der Pfiff ihm gegolten hat, weiß er nicht, möglicherweise ist er abgetrieben in das für Surfer abgesperrte Revier. Mit vollem Krafteinsatz beginnt Hartmut zu kraulen. Die Wellen heben ihn hoch, aber statt ihn mitzunehmen, rollen sie davon und lassen ihn schwer atmend zurück. Der Strand ist zu weit weg, um zu erkennen, ob dort jemand steht und nach ihm schaut.
Von einem Moment auf den anderen überfällt ihn Panik. Seine Bewegungen werden hastig. Er muss sich zwingen, nicht nach jedem Zug aufzublicken, um die Distanz zu schätzen, und verflucht die Arglosigkeit, mit der er sich hat treiben lassen. Erschöpfung lähmt seine Glieder, und sein Herzschlag wird zu einem schnellen Wummern. Bilder von Booten der Küstenwache schießen ihm durch den Kopf, nur eine leise Stimme versichert ihm, dass er nicht ernsthaft in Gefahr ist. Es dauert, bis sie sich Gehör verschafft und das Übertriebene seiner Angst ihm bewusst wird. Immer noch ist der Strand weit weg, aber die Entfernung schmilzt. Wenn Hartmut innehält, bevor eine Welle ihn erreicht, verleiht sie ihm zusätzlichen Schwung.