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Etwa zweihundert Meter unterhalb der Stelle, wo er ins Wasser gegangen ist, watet er durch die knietiefe Brandung zurück an Land. Ausgepumpt, halb euphorisiert und halb beschämt von seinem Abenteuer. Über dem Hinterland steht die Sonne, als wollte sie sich durch den Himmel brennen. Er findet sein Handtuch und setzt die Brille wieder auf. Sofort verliert die Welt ihre bedrohliche Unschärfe, das Meer rauscht und rollt, als wäre nichts geschehen. Ein einzelnes Frachtschiff gleitet über den Horizont. Vergebens hält Hartmut Ausschau nach einer Person mit Trillerpfeife. Vielleicht war es ein Hundehalter beim morgendlichen Spaziergang.

Er setzt sich in den Sand, streckt die Beine aus und betrachtet die blau mäandernden Adern an den Fußgelenken. Angenehm kühl laufen Wassertropfen über seine Haut. Kurz darauf taucht die erste Familie am Strand auf. Vater und Mutter mit Tochter und Sohn, alle vier ausgestattet mit schützender Kopfbedeckung und bepackt wie eine Karawane reisender Händler. Mit ihren aufgeblasenen Schwimmtieren um den Körper sehen die Kinder aus wie Nachfahren des Minotaurus. Vermutlich Deutsche, wer sonst beginnt seinen Urlaubstag schon um kurz vor neun? Als wäre die Ankunft weiterer Badegäste ein Signal für sie, beginnen die Angler, ihre Sachen zusammenzupacken.

Einen Steinwurf von Hartmut entfernt bleiben die vier stehen, um über den besten Lagerplatz zu beraten. Kinderfinger weisen hierhin und dorthin. Der Anblick erfüllt ihn mit Wehmut: die Nähe, das Zusammenspiel von großen und kleinen Körpern. Mit geschlossenen Augen streckt er sich im Sand aus und sieht seine vierjährige Tochter über den Praia da Falésia rennen. Noch nicht das schlaksige Schulkind späterer Jahre, sondern liebenswert pummelig in ihrem türkisen Badeanzug. Die Taucherbrille ist verrutscht, nasse Haare kleben am Kopf, so kommt sie in seine Arme gelaufen mit dringenden Mitteilungen: was Delphine über Haie denken und dass sie einen Krebs gesehen hat. Maria liegt daneben und gibt vor, in ihrem Buch zu lesen. Theatertheorie, viel zu schwierige Lektüre für den Strand. Mit der Fingerspitze entfernt sie ein Stück Seetang von Philippas Wade, bevor sie gemächlich umblättert.

Ferne Rufe. Warmer Sand. Das Geschrei von Möwen und dahinter das Meer, so beständig rauschend, dass man es beinahe nicht hört.

Als er die Augen wieder öffnet, hat die Familie sich eingerichtet unter einem roten Sonnenschirm. Die Eltern werden träge, die Kinder reiten auf Schwimmtieren davon Richtung Wasser. Vater und Mutter reden miteinander; bestimmt sagt sie einen Satz, der mit ›Ich hab letzte Nacht‹ beginnt, denn sofort nickt er einsichtig und setzt sich auf, legt die Zeitung beiseite für später. Genau so war es, denkt Hartmut. Jahr für Jahr. Sommer für Sommer. Am Abend sind sie zum Strand zurückgekehrt, weil Philippa Muscheln sammeln wollte. Maria und er schlenderten hinterdrein, Arm in Arm und in der freien Hand ein Eimerchen. Am Ende jedes Urlaubs mussten sie ihrer Tochter erklären, warum sie von tausend Muscheln nur zwei Hände voll mit ins Flugzeug nehmen konnte.

Am liebsten würde er zu den Eltern hingehen und sagen: Besser wird’s nicht mehr. Genießt jede Minute.

Die Sonne steigt höher, und der feinkörnige Sand beginnt Hitze zu speichern. Bernhard hat angekündigt, ihn um ein Uhr im Hotel abzuholen. Der gemeinsame Abend gestern endete, als der Betrieb in der Bar zunahm und der Chef drinnen aushelfen musste. Eine Weile saß Hartmut noch an der Theke, versuchte zu ignorieren, dass er der älteste Gast war, und zu ergründen, warum Bernhards zurückhaltende Reaktion auf seine Berlin-Pläne ihn stärker ernüchtert hatte, als er im ersten Moment glauben wollte. Gegen Mitternacht übernahm im hinteren Teil der Bar ein Diskjockey das Kommando. Mechanisch stupide Rhythmen dröhnten durch den Raum. Als an der Theke das nächste Sonderangebot ausgerufen wurde — fünfzehn Minuten lang kostete jeder Tequila-Shot einen Euro — beschloss Hartmut aufzubrechen. Auf der Promenade herrschte derselbe Betrieb wie um sieben Uhr, oben auf der Düne saßen Jugendliche im Kreis und sangen. Über den Strand huschten Schatten, meistens paarweise. Alleine stand Hartmut dort, wo jetzt der junge Vater steht und auf einmal älter aussieht mit seinen nach vorne gezogenen Schultern und dem leichten Bauchansatz. Alles vergeht wie im Zeitraffer. Ein Dutzend Kinder toben in der Brandung, und auf dem Hochsitz der Strandaufsicht wachen zwei sonnenbebrillte Rettungsschwimmer über das Geschehen. Vom bleichen Mond gerufen, arbeitet das Meer sich den Strand hinauf. Über die Düne kommen neue Badegäste, Familien, Paare, Einzelgänger. Sein knurrender Magen erinnert Hartmut daran, dass er noch nicht gefrühstückt hat. Im Aufstehen streift er sich das Hemd über den Kopf und geht zurück zum Hotel.

Gegen halb zwei sitzen sie einander am gedeckten Tisch gegenüber. Zwischen Tellern mit Gänseleberpastete und Salat liegt frisches Baguette in einem Bastkörbchen. Ein rechteckiger weißer Sonnenschirm überspannt die gesamte Terrasse des La Mouette. Bernhards bevorzugtes Restaurant, ein verglaster Bungalow in Sichtweite des Meeres, wenige Kilometer außerhalb von Mimizan. Bequeme Rattanmöbel und leise Musik verleihen dem Ort das Flair einer karibischen Lounge. Neben den Tischen aufgestellte Ventilatoren lindern die Mittagshitze. Hartmut wirft einen Blick in die Speisekarte und versucht, den langsamen Rhythmus des Tages zu genießen. Das, was Ferien ausmacht. Gleichzeitig drängt es ihn zu erzählen; seit gestern Abend schon, so als müsste er weiter ausholen, um Bernhard von der Ernsthaftigkeit seiner Überlegungen zu überzeugen.

«Als Siebzehnjähriger«, sagt er, trinkt einen Schluck Wasser und mag das Klirren der Eiswürfel in seinem hohen Glas,»als Siebzehnjähriger war ich oft im Marburger Studentenkino und jedes Mal stolz, wenn niemand nach meinem Ausweis gefragt hat. Ich bin nicht nur der Filme wegen hingegangen, sondern wollte schauen, wie die Studenten sich anziehen. Wie sie gehen und reden. Damals wusste ich noch nicht einmal, ob ich Abitur machen würde. Mein Vater hatte mir einen Ausbildungsplatz am Landratsamt verschafft. Über seine Kontakte im Posaunenchor. Das war mein vorgezeichneter Weg, nicht die Uni. «Er blickt auf und sieht seinem Gegenüber ins Gesicht. Wie immer in Frankreich wünscht er, sein Französisch wäre besser.»Was heißt huîtres?«

«Austern. «Bernhards Hemdkragen steht offen, in der Spitze des V zeigen sich ein paar Haare. Sein Tag hat erst vor einer Stunde begonnen. Auf dieser Terrasse, wo die Kellner ihn mit Namen anreden, wirkt er wie ein Lebemann in den unverdienten und zu langen Ferien. Nur die wachen blauen Augen stehen dem Eindruck entgegen.

«Was mich damals getrieben hat«, fährt Hartmut fort,»würde ich heute den typischen Bildungshunger des Autodidakten nennen. Ich hab Stiller gelesen und jeden zweiten Satz unterstrichen. Dann kamen die Bergman-Filme. Das Schweigen war wie eine Offenbarung, nicht nur wegen der Liebesszenen. Später Jazz, alles Neuland für mich. Wenn ich meine Tochter anschaue, denke ich, sie wächst auf in einer Welt, in der alles schon da ist außer dem nächsten noch besseren Handy. Für mich war’s eine Entdeckungsreise. Bloß für ideologische Fragen hatte ich keine Antenne, das war schlecht. Siebzig oder einundsiebzig, als ich gerade nach Berlin gewechselt war, musste ich zusammen mit einem Kommilitonen ein Referat halten. Worum es ging, hab ich vergessen, aber es hatte mit Marx zu tun. Wie alles zu der Zeit. Jeder hat seinen Text vorbereitet, danach haben wir uns zusammengesetzt, und ich wusste sofort, er ist mir Lichtjahre voraus. Im Seminar hab ich schwitzend meinen Teil vorgetragen, dann er seinen, als wäre es eine Selbstverständlichkeit: Hier irrt Marx, hier auch. Hier noch mal. Sobald er fertig war, brach der Sturm los, ich hab mich verkrochen, und der Kerl hat gekämpft wie ein Löwe. Es war beeindruckend. Er hat es mit dem ganzen Seminar aufgenommen. «Der überfüllte Hörsaal im Henry-Ford-Bau steht ihm vor Augen, im Sommer und bei offenen Fenstern, so dass die Flugzeuge nach Tempelhof mitten durch den Raum zu fliegen schienen. Hans-Peter mit aufgerollten Hemdsärmeln vorne am Pult, strenger Seitenscheitel und Hornbrille, uncool und blitzgescheit alle Angriffe parierend, ohne die Fassung zu verlieren.