Bernhard sieht aus, als hätte er weder großen Hunger noch besonderes Interesse an Hartmuts Erzählung.»Wovon willst du mich überzeugen?«, fragt er.
«Von nichts. Ich glaube, ich hätte Lust auf Austern. «In Gedanken blättert Hartmut weiter zum nächsten Bild: Hans-Peter in seinem penibel aufgeräumten Hinterhofzimmer am Mehringdamm, ein Glas mit warmem Sekt in der Hand, an dem Tag, als die Zusage für sein Stipendium eingetroffen war. ›Frauen, ja, Frauen sind ein Problem.‹ Maria meint, er habe kaum Freunde, weil er nicht aufhören könne, sich mit ihnen zu messen. Auf typisch männliche Weise, nicht gut sein wollen, sondern besser als.
«Bestellen wir Austern«, sagt Bernhard.
«Was ich in dem Moment verstanden habe, war: Ich hätte nichts dagegen, ein Außenseiter zu sein, im Grunde war ich immer einer. Mir fehlte bloß die Statur, um es durchzuziehen. Im Seminar musste ich allen Mut zusammennehmen, um den Mund aufzumachen. In den Augen der anderen war ich nichts als ein Scheiß-Liberaler, ungeschult und autoritätsgläubig. Nach den damaligen Maßstäben stimmte das.«
«Wie bist du auf die Idee gekommen, nach Amerika zu gehen?«
«Besagter Kommilitone ist ein Jahr vor mir gegangen. In Berlin war ich danach der einsamste Mensch der Welt. Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn ich das Stipendium nicht bekommen hätte. Ich musste weg.«
«Und warum Philosophie?«
Hartmut zuckt mit den Schultern:»Interesse.«
Während der Kellner die Vorspeise abräumt, ruht ihre Unterhaltung. Am Nachbartisch erheben sich alle für einen Toast, ausgebracht von einem älteren Herrn, der bei näherer Betrachtung nicht älter aussieht als Hartmut selbst. Die achtköpfige Gesellschaft scheint eine Verlobung zu feiern, jedenfalls steht ein junges Paar im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Hinter der Terrasse flimmert die heiße Luft über dem Strand. Ein metallisches Glänzen liegt auf dem Wasser. Zu seinem letzten, eigens nach Berkeley geschickten Buch hat sich Hans-Peter bisher nicht geäußert. Wahrscheinlich scheut er davor zurück, das Werk eines Freundes zu verreißen.
Über den Tisch hinweg sehen sie einander an, und Bernhard winkt ab, als bedürfte das Gespräch eines neuen Impulses. Inzwischen sieht er wacher aus als bei ihrer Ankunft.
«Nenn mich penetrant, aber wozu überhaupt Philosophie?«Für Grundsatzfragen, auf die es keine Antwort gibt, hatte er schon in Bonn ein besonderes Faible.»Was soll das noch in unserer Zeit? Niemand interessiert sich dafür, obwohl viele so tun. Die Zunft ist krampfhaft darum bemüht, ihre praktische Anwendbarkeit unter Beweis zu stellen, und fällt als Einzige darauf rein. Was tun wir? Für wen tun wir’s?«
Am Nebentisch klirren Kristallgläser. Hartmut hätte lieber weiter von sich erzählt, aber offenbar hat er seinen Gesprächspartner damit gelangweilt. In dessen Sprachgebrauch gehört Penetranz zu den intellektuellen Tugenden.
«Was sollten wir stattdessen tun?«, fragt er.
«Wein trinken, Bilder malen, auf Berge steigen. Oder uns politisch engagieren und die Dinge verändern. Géraldine sitzt in allen möglichen Komitees und fordert mich auf mitzumachen. An Missständen herrscht kein Mangel. Aber wir widmen uns einer Wissenschaft, die keine ist, und tun so, als suchten wir Erkenntnisse, an denen wir festhalten können. In Wahrheit fahnden wir nach den Gründen, die uns das Festhalten verbieten. Als wollten wir an nichts glauben müssen. Warum?«
«Sag du’s mir. «Hartmut erinnert sich an Abende, an denen amüsierte Blicke vom Nebentisch sie trafen, weil Bernhard mit lauter Stimme und energischen Gesten seine Tiefenbohrungen vornahm.»Die Rolle des desillusionierten Akademikers mag ich zwar nicht, aber was ich ausübe, ist in erster Linie ein Beruf. Er ernährt eine Familie. Beziehungsweise drei miteinander verwandte Individuen.«
«Das ist alles?«
«Als ich meiner Schwester von der Stelle im Verlag erzählt habe, meinte sie: Du wolltest immer Professor werden. Das stimmt. Ich komme aus einem Haus ohne Bücher und wollte Professor werden. Sobald es möglich war, bin ich nach Amerika gegangen, wo mein Doktorvater mir gesagt hat, worüber ich promovieren soll. Es war wichtig für mich, ihn nicht zu enttäuschen. So bin ich zu meinem Fachgebiet gekommen. Irgendwann ist man drin und tut seine Arbeit. Wenn ich zurückblicke, bin ich nicht sicher, ob ich je Illusionen hatte. Ich meine im großen Stil. Es war mehr ein persönliches Projekt.«
Die Austern kommen in einer großen, mit Eis gefüllten Schale. Bernhard lehnt sich in seinem Stuhl zurück und verschränkt die Arme.
«Ich bin davon überzeugt«, sagt er ernst,»dass das, was wir tun, von unersetzlichem Wert ist. Der in der praktischen Nutzlosigkeit dessen liegt, was wir tun — Gedanken denken, denen jede Anwendbarkeit abgeht. Abseitig sein, ohne beliebig zu werden. Es geht um die Weigerung, eine Funktion zu erfüllen. Vor kurzem hab ich zu Hause Spinoza gelesen und war beglückt. Ich hatte kein Bedürfnis, darüber zu schreiben, etwas daraus zu machen, ich wollte nur verstehen, was er meint. Übrigens glaube ich, dass Herwegh das genauso gesehen hat, er wollte sich bloß nicht in die Karten gucken lassen. Deshalb hat er von Tradition und historischem Bewusstsein genäselt. In Wirklichkeit war es für ihn gegenwärtig.«
«Nach deinem Abgang hat er sich als Einziger gegen die Reformen gestellt. Auf seine verquere Art, es war kein schönes Schauspiel.«
«Als ob ich’s geahnt hätte. Mein Freund Herwegh.«
Die Tischgesellschaft neben ihnen hat wieder Platz genommen. Trockene Hitze liegt über der Landschaft. Wenn er still sitzt, spürt Hartmut die Wellen des Meeres durch seine Glieder laufen, ein sanftes Auf und Ab.
«Man weiß bei dir nie«, sagt er,»ob du das Gefühl hast, deiner Zeit voraus oder von ihr überrollt worden zu sein. Und was dir besser gefallen würde. Mein Verdacht war damals schon: Es schmeichelt deinem Ego, wenn man dich nicht versteht.«
«In welchem Fall ich mich genau jetzt geschmeichelt fühlen müsste«, erwidert Bernhard trocken.
«Wie kannst du nicht den Wunsch haben, weiter dabei zu sein? Gehört und gelesen zu werden.«
«Vielleicht hab ich ihn und geb ihm nicht nach.«
«Warum?«
«Weil man korrumpiert wird durch das Bedürfnis, andere zu überzeugen. Recht zu bekommen und recht zu behalten. Weil es zwei gegensätzliche Dinge sind, denken und nach Applaus gieren. Sie schließen einander aus.«
«Ich weiß bei dir auch nie, inwiefern du selbst glaubst, was du sagst.«
Die Austern schmecken fischiger und salziger, als Hartmut erwartet hat. Noch beim abschließenden Kaffee hat er das Gefühl, ein Schwall Meerwasser wäre samt Algen durch seinen Rachen geflossen. Nachdem Bernhard die Rechnung beglichen hat, gehen sie zum Auto und folgen der sandigen Piste zurück zur Landstraße. In der Ferne türmen sich weiße Wolken auf, schwebende Eisberge, denen sie nicht näher kommen, obwohl sie darauf zu fahren. Weiter im Landesinneren werden die Pinienwälder abgelöst von Eichen, Birken und gewaltigen Platanen. Schilder warnen vor Wildwechsel. Eine Weile fahren sie schweigend dahin, dann dreht Bernhard ihm das Gesicht zu, als würde er auf eine eben gemachte Bemerkung reagieren:»Und später, als Professor? Was war stärker, das Gefühl, es endlich geschafft zu haben oder weiterhin nicht dazuzugehören?«
Unentschieden wiegt Hartmut den Kopf hin und her.
«Als junger Professor in Bonn hatte ich Kollegen wie Hermann Grevenburg und Heinz-Ludger Riemann. Unglaublich elitäre Typen. Die sagten, sie seien ›zu Tisch‹, wenn sie sich mittags für zwei Stunden absentiert haben. Nicht in die Mensa natürlich, runter an den Rhein, vier Gänge und ein Viertel Weißwein, das entsprach ihrem Begriff von akademischer Kultiviertheit. Die haben in ihren letzten Jahren nichts mehr publiziert, außer in den Festschriften für geschätzte Kollegen. Aber ein C3-Prof, der kein Griechisch kann und von einer amerikanischen Uni kommt, die nicht Harvard heißt, das war der Untergang des Abendlandes. Ich würde sagen: beides gleich stark, bloß dass ich zu denen gar nicht gehören wollte. Riemann sagte immer ›Mini-apolis‹, mit einem verkniffenen Zwinkern, als hätte er was im Auge. «Hartmut schaltet einen Gang nach oben und zieht an einer Gruppe Radfahrer vorbei. Vier Männer in weißen Trikots und Helmen, über die Lenker gebeugt wie im Wettkampf. Kurz darauf zerfließen sie im Rückspiegel zu hellen Flecken am Straßenrand.