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«Das hast du dir zu Herzen genommen? Den Spott solcher Mumien?«

«Ich hab sie gehasst. Richtig gehasst. «Zum Glück dauerte es nur drei Semester, bis Grevenburg emeritiert wurde und sein Kompagnon wegen gesundheitlicher Probleme kaum noch am Institut erschien. Ein Jahr später ging auch Riemann, und wenige Monate darauf war er tot. An Herzversagen gestorben kurz vor Erscheinen seiner eigenen Festschrift.»Dabei waren sie harmlos im Vergleich zu den Intrigen und Feindschaften, die es auch gab. Der linken Tour, die Dietmar Jacobs mit mir abgezogen hat. Den wirklich unerfreulichen Sachen.«

«Jacobs war früher in Bonn?«

«Immer in Berlin. Erst als Assistent an der TU, da haben wir uns kennengelernt. Später war er Privatdozent, und als nach der Wende eine Professur ausgeschrieben wurde, die ich hätte bekommen sollen, hat er in die Kiste mit den schmutzigen Tricks gegriffen. Bis heute weiß ich nicht genau, wie er das eingefädelt hat. Irgendwie muss es ihm gelungen sein, eine ehemalige Freundin von mir vor seinen Karren zu spannen. Spielt keine Rolle mehr. Er hat Maria und mich einander vorgestellt, das ist sein bleibendes Verdienst. Aber trotzdem. Heute Vormittag lag ich im Hotel auf dem Bett und hab an unser gestriges Gespräch gedacht. Eigentlich hätte ich Verwaltungsangestellter werden sollen, am Ende bin ich Professor geworden. Ich könnte stolz darauf sein, und ich bin stolz, aber außerdem würde ich gerne zufrieden sein, und das bin ich nicht. Verstehst du? Wenn es bloß Arbeit war, warum habe ich ihr alles andere untergeordnet? Und andererseits: Wenn ich so viel reingesteckt habe, kann ich jetzt einfach aussteigen?«Im Fahren wendet er den Kopf und begegnet Bernhards ratloser Miene. Er weiß nicht, nach welcher Antwort er sucht und wovon er sich überzeugen möchte. Es muss einfach raus.»Und du? Verpisst dich nach Südfrankreich und machst eine Bar auf. Was fällt dir ein? Wir hätten zusammen was auf die Beine stellen können in Bonn. Und wenn es nur gewesen wäre, was du vorhin gesagt hast, auf Berge steigen und Wein trinken. Malen kann ich nicht. Aber ich wäre nicht völlig alleine gewesen, das hätte einen großen Unterschied gemacht.«

Bernhard dreht sich zur Seite, lehnt mit der Schulter gegen die Beifahrertür und schiebt die Sonnenbrille nach oben, um seinem Blick Eindringlichkeit zu verleihen.

«Was ist eigentlich dein Problem?«, fragt er.»Du hast erreicht, was du erreichen wolltest, und an mehr nie geglaubt. Hast du jedenfalls gerade behauptet. Aber wenn es wirklich so wäre, würdest du nicht lange nachdenken, sondern deinen Hut nehmen.«

Hartmut nickt. Was ihm auf der Zunge liegt, klingt wie die Zeile aus einem kitschigen Schlager. Abgeschmackt noch als ironisches Zitat, und dennoch tut es gut, die Worte auszusprechen:»Was bleibt, wenn ich nicht mehr bin. «In den Fahrtwind hinein, der durchs offene Seitenfenster ins Auto weht.»Das letzte Buch war ein Fehlschlag. Ich hab mich zu was hinreißen lassen und die Quittung bekommen. Aber dass ich schon am Ende sein soll? Gegen einen Wechsel hätte ich nichts einzuwenden, aber wenn es darauf hinausläuft, meinen Platz zu räumen…«

«Davon musst du dich frei machen, hörst du. Aus diesem Denken musst du raus.«

«Das ist der Punkt. Anders als du war ich mein ganzes Leben lang draußen, ich wollte immer rein.«

«Vielleicht ist es dir entgangen, aber mindestens seit einem halben Leben bist du drin. Jetzt wäre es souverän zu sagen ›nein, danke‹ und dann wieder raus. Um dir den Schritt zu erleichtern, würde ich der Deutschen Bahn vorschlagen, einen ICE nach dir zu benennen. Mein Schwager arbeitet für den Laden.«

«Wann bist du so ein Arschloch geworden?«, sagt Hartmut ohne Wut.»Sei ehrlich, du hast hingeschmissen, weil der Erfolg nicht deinem Anspruch genügt hat. Richtig? Du hättest dich mit Freuden korrumpieren lassen, wenn du mehr zurückbekommen hättest als verständnisloses Kopfschütteln. Stattdessen sitzt du in der Sonne, leckst deine Wunden und hältst das für die souveränere Lebensform.«

«Lass uns über was anderes reden. «Bernhards Worte klingen verstimmt, aber seine Miene lässt davon nichts erkennen.»Ich hab meine Entscheidung getroffen, triff du deine. Zerbrich dir den Kopf und dann tu, was du für das Beste hältst. Okay?«

«Das nenne ich mal einen guten Ratschlag.«

Je weiter sie ins Land hinein fahren, desto kurvenreicher wird die Straße. Die Ortsnamen auf den vorbeitreibenden Schildern bekommen einen Klang, den Hartmut für baskisch hält, bis sein Beifahrer das Schweigen bricht und ihn aufklärt, dass er gaskognisch sei. Ein Bekannter in Mimizan, Linguist und Alkoholiker, komme gelegentlich in die Taverne und doziere über die verschiedenen Sprachen des französischen Südwestens. Als Hartmut der Abzweigung nach Mont-de-Marsan folgt, erfährt er, das Géraldine dort als Lehrerin arbeitet, geschieden ist und zwei Kinder hat. Außerdem erzählt Bernhard von einem Stierkampf in der Arena, dem er den bisher heftigsten Streit mit seiner tierliebenden Freundin verdankt. In der Mitte eines verschlafenen Dorfes halten sie an, und Hartmut bleibt sitzen, während sein Beifahrer in einem Spar-Markt verschwindet. Ein dickes Kind fährt Fahrrad, ansonsten ist niemand zu sehen und nichts zu hören. Durch die Windschutzscheibe betrachtet Hartmut die vertraute Formation: eine graue Kirche inmitten eines ungeteerten, von Platanen gesäumten Platzes. Das überall gleiche Zentrum der französischen Provinz. Die Vorstellung, hier zu leben, erscheint ihm weder verlockend noch unattraktiv, sondern bloß… er bricht den Gedanken ab wie einen gesprochenen Satz. Nach zehn Minuten tritt Bernhard mit voll bepackten Armen aus dem Laden. Beim Einsteigen hält er Hartmut eine gefüllte Papiertüte entgegen.

«Morgen kommt Géraldine und mit ihr die vegetarische Küche. Ich dachte, heute Abend nutzen wir die Chance und grillen.«

«Sie kommt erst morgen?«

«Heute besucht sie ihre Eltern. Da vorne links. Noch zehn Kilometer.«

Die Landschaft ist nicht südlich üppig, auch nicht karg wie die Serra da Estrela. Hinter den Mischwäldern erwartet man offene Ebenen und das blasse Relief der Pyrenäen, aber nie reicht der Blick frei und weit in die Ferne. Neben unbefestigten Straßenrändern grasen zottelige braune Pferde. Nach weiteren zehn Minuten rollen sie am Ortsschild von Saint-Yaguen vorbei. Das Rathaus neben der heruntergekommenen Kirche ist gerade groß genug für die Worte ›Liberté, Égalité, Fraternité‹ auf seiner Stirnseite. Auch hier zeigt sich am frühen Nachmittag keine Menschenseele auf der Straße. Vor dem einzigen Wirtshaus weist Bernhard nach links, und schon bewegen sie sich wieder aus dem in der Gegend verstreuten Ort hinaus. Auf großzügigen Grundstücken stehen teils verfallene, teils neu erbaute Häuser. Wo trockene Wiesen ins nächste Waldstück übergehen, biegen sie ein letztes Mal ab, dann erkennt Hartmut die Umrisse eines Gebäudes, das erst im Näherkommen Gestalt annimmt. Von Obstbäumen umgeben, steht es auf einer Erhöhung im Boden, mit schmalen hohen Fensterläden und einem roten Ziegeldach. Kein Zaun grenzt das Grundstück ein. Der Feldweg endet wie eine seit langem unbenutzte, von Vegetation überwucherte Bahntrasse.

«Früher war es Teil eines größeren Gutshofs«, sagt Bernhard.»Vermutlich nur ein Nebengebäude. Der neue Besitzer hatte es gerade renoviert, als er pleiteging. Ich hab’s für die Hälfte seines tatsächlichen Wertes bekommen.«

Beim Aussteigen riecht die Luft nach Lavendel. Bernhard geht voran und berichtet von Plänen, die vordere Terrasse um ein Holzgerüst zu ergänzen und von wildem Wein bewachsen zu lassen. Mit der Schulter stößt er die massive Haustür auf und lässt Hartmut eintreten.