«Voilà. Von Géraldine abgesehen, bist du mein erster Gast. Willkommen!«
Schwacher Lackgeruch mischt sich unter die abgestandene Luft. Im ersten Moment erkennt Hartmut nur Schemen. Frisch geschliffene Bodendielen verbreiten einen matten Schimmer, Ledermöbel haben sich wie schlafende Tiere um einen Holztisch versammelt. Dann öffnet Bernhard zwei Fensterläden und lässt Licht in einen offenen Wohnbereich, der fast das gesamte Erdgeschoss einnimmt. Kräftige Balken stützen die Decke. An den Wänden hängen keine Bilder, nur über dem Sofa zwei geschnitzte Masken.
«Das Innere ist noch nicht fertig«, sagt Bernhard.»Ich richte mich nach und nach ein. Géraldine kennt einen guten Restaurateur für alte Möbel.«
Unten befinden sich lediglich Küche und Bad, oben zwei Schlafzimmer und nach hinten gelegen ein Raum, den Bernhard als sein Studio bezeichnet. Durch mehrere Dachfenster fallen Sonnenstrahlen in den Flur und machen schwebende Staubkörner sichtbar. Bernhard lehnt gegen das Treppengeländer und zeigt mit dem Kinn auf die offene Tür des zweiten Schlafzimmers.
«Bettwäsche liegt im Schrank. Ruh dich aus, hier oder auf der Terrasse. Vorher noch eins: An diesem Wochenende beginnt die Jagdsaison, das ist in Frankreich kein Spaß. Außer für die Jäger. Falls du vorhattest, einen Spaziergang zu machen.«
«Hatte ich nicht.«
«Schön. Dann fühl dich wie zu Hause.«
Hartmuts Blick bleibt an dem getrockneten Lavendel hängen, der in Büscheln über dem Treppenabgang baumelt. In Bernhards Bonner Wohnung hatte es keine Pflanzen gegeben, nur Bücher und noch mehr Bücher. Eine sparsame, um nicht zu sagen spartanische Möblierung.
«Die Antwort auf deine Frage lautet Ja. «Bernhard ist seinem Blick gefolgt und nickt.
«Du hast noch nicht viel von euch erzählt. Kommt sie als Gast hierher oder lebt ihr zusammen?«
«Im Moment überlegen wir, wo und wie wir zusammen leben könnten.«
«Im Gegensatz zu deinen Zimmern in Poppelsdorf macht das Haus den Eindruck, als sollte es ein Zuhause werden.«
«Könnte sein. «Bernhard sieht sich um, als suchte er nach Hinweisen, die Hartmuts Behauptung bestätigen. Dann wendet er sich zum anderen Schlafzimmer und sagt:»Mach es wie ich. Leg dich eine Stunde hin. Wir haben das ganze Wochenende Zeit.«
Am Abend mischt sich der Geruch von gegrilltem Fleisch unter die Sommerdüfte des Gartens. Die Sonne ist bereits untergegangen, aber der Himmel strahlt weiter in einem fernen Blau, durch das gelegentlich glitzernde Flugzeuge ziehen. Den Nachmittag hat Hartmut auf der Terrasse zugebracht, mit einem Glas Orangensaft und der Lektüre von Charles Lins Doktorarbeit. Angenehmer als das Wissen, nicht arbeiten zu müssen, ist nur, es trotzdem zu tun. Aus dem Dorf kamen wenige Geräusche. Ein Schwarm Tauben umflatterte den gedrungenen Kirchturm von Saint-Yaguen. Nachdem Bernhard seine Siesta beendet hatte, gönnten sie sich den ersten Aperitif. Saßen auf den Liegestühlen und sahen den allmählichen Veränderungen des Lichts zu. Spatzen hopsten wie kleine Derwische um eine im Gras liegende Frucht. Als sich der Hunger zurückmeldete, holten sie den Grill aus einem von Sträuchern umwucherten Schuppen, der bei der Renovierung übergangen worden sein musste. Zwischen bröckelnden Lehmwänden hing der Geruch von Hasenkot und ewigem Schatten. Verrostete Gartengeräte standen zwischen Autoreifen, durch die man mit dem bloßen Finger stechen konnte. Das Entfernen von Spinnweben und altem Fett hat eine halbe Stunde gedauert. Jetzt hantiert Bernhard mit einer riesigen Fleischzange und hört zu, wie Hartmut einen typischen Satz aus der Dissertation zitiert.
«… wird schließlich die konfuzianische Moralsubstanz aufgehoben zu einer perfekten Syntheselehre in der nicht mehr eurozentrischen Lesart gemäß dem höchsten Prinzip von Daotong und Tradition. «Ratlos sieht er vom Text auf.»So geht das fünfhundert Seiten lang. Jede Behauptung ist gedeckt durch irgendwas, das ein weiser Mann des Altertums gesagt haben soll. Alles strebt nach oben und geht restlos auf, das häufigste Adjektiv ist ›perfekt‹. Einen derart optimistischen Text habe ich noch nie gelesen. Ich weiß bloß nicht, was er sagen will.«
«Gib ihm ein Magna«, sagt Bernhard ungerührt. Barfuß steht er vor dem Grill und trägt zur Cordhose ein verwaschenes grünes T-Shirt. Für seine Verhältnisse ein ungewöhnlich legeres Outfit.
«Magna vergebe ich für ordentliche Arbeiten. An das letzte Summa kann ich mich kaum erinnern. Leute, die mit Summa promovieren, tun es bei besser beleumundeten Kollegen.«
«Ich hab keine Ahnung, was diese Ausdrücke bedeuten sollen, und es spricht nicht für deinen Kandidaten, dass er Hegel wörtlich nimmt. Aber vielleicht stecken interessante Gedanken dahinter. Könnte sein oder auch nicht. Dir fehlt die Zeit, es herauszufinden. Du kannst ihn nur entweder durchwinken oder ihm ein Bein stellen.«
«Sechs Jahre hat er an dem Text gearbeitet. In China lebt seine kleine Tochter, die er ein Mal im Jahr sieht. Außerdem schreibt er, als wären Satzzeichen nur auf dem Schwarzmarkt zu bekommen. Am liebsten würde ich ihn Breugmann unterjubeln, damit er mal sieht, womit andere sich herumschlagen.«
Weil der Wein noch atmen muss in seinem bauchigen Dekantiergefäß, haben sie ein kühles Kronenbourg zwischengeschaltet. Hartmuts geheime Hoffnung war, dass Bernhard anbieten würde, ihm bei der Abfassung des Gutachtens zu helfen, aber darum bitten will er nicht. Entschlossen klappt er die Arbeit zu und lässt sie neben sich auf den Boden fallen.
«Genug davon«, sagt er.»Ich bin in den Ferien.«
Das Licht im Garten verändert sich weiter, bekommt einen Blaustich und wird schwächer. Mit der Bierflasche in der Hand sitzt Hartmut im Liegestuhl, fühlt Kondenswasser über seine Finger rinnen und wartet vergebens auf das wohlige Rapa-Gefühl, das ihn gestern in der Taverne überkommen hat. Die Muße langer Abende. Stattdessen fragt er sich, was Maria und Philippa gerade machen. In Kopenhagen steht die erste Aufführung an. Wann wird er seiner Frau endlich sagen, dass er im Ausland unterwegs ist? Wenn er Philippa besuchen will, warum hat er ihr immer noch nicht geschrieben? Soll er weiterfahren oder doch lieber zurück? Am liebsten wäre er frei von der Notwendigkeit, irgendeine noch so nebensächliche Entscheidung zu treffen. Sich einfach treiben lassen, ohne Ziel und ohne Hast.
«Vor einiger Zeit ist mir eine seltsame Geschichte passiert«, sagt Bernhard, als hätte er nur darauf gewartet, dass Hartmut aufhört, von seiner Arbeit zu sprechen.»Wollte ich dir gestern schon erzählen. Es war in dem Winter, bevor Géraldine und ich uns kennengelernt haben.«
«Okay. Lass hören.«
Bernhard zieht einen Stuhl zu sich heran und stellt ihn so, dass er seitlich zum Grill sitzen und seinen Gesprächspartner ansehen kann.
«Letztes Jahr hatte ich das Haus noch nicht. Hab ganzjährig in der Wohnung über der Bar gewohnt, was im Sommer praktisch war. Im Winter kann es trostlos werden in Mimizan. Die Touristen sind weg, und in der Bar sitzen alte Männer, die Pastis trinken und über ihre Frauen klagen. Bevor ich Géraldine kannte, hab ich’s mir zur Angewohnheit gemacht, regelmäßig nach Bordeaux zu fahren. Bücher kaufen, in Cafés gehen, andere Gesichter sehen. Ab und an brauche ich fremde Menschen um mich herum, denen ich zuschauen kann, wie sie alltägliche Dinge tun: miteinander reden, streiten, essen. Ich denke immer, sie tun es anders als ich. Géraldine meint, das kommt davon, wenn man zu lange alleine lebt. Unter ständiger Selbstbeobachtung beginnt irgendwann bedeutsam auszusehen, was bei anderen leicht und beiläufig wirkt.«
«Da hat sie recht.«
«An dem Abend in Bordeaux hatte ich mich mit einem Grossisten getroffen. Hab ein paar Weine probiert und war auf dem Rückweg zum Hotel schon leicht angetrunken. Hässliches Wetter, Nieselregen. Es war Februar, ich war solo. Einer dieser Abende, an denen du denken willst, dass hinter der nächsten Straßenecke etwas auf dich wartet. Nicht etwas, jemand. Du schaust in die Bistros und Bars, siehst eine Frau alleine am Tisch sitzen und fragst dich, was dagegen spricht, dich zu ihr zu setzen. Gefragt hab ich mich das oft, aber getan hab ich’s noch nie. Ich wüsste nicht wie. Small Talk interessiert mich nicht, ich frage zu viel nach, bis die Leute anfangen, sich verhört zu fühlen. «Er unterbricht sich, greift nach der Karaffe mit dem Wein und schenkt zwei Gläser voll.»Das könnte einer von denen sein, die ich an dem Abend probiert habe. Mir schmeckt er gut. Zum Wohl.«