«Ich will, dass meine Söhne sich an diese drei Tage als die schönste Zeit des Jahres erinnern. «Mit diesen Worten hat seine Schwester am Vorabend die Frage zurückgewiesen, ob sie es nicht übertreibe mit ihren Vorbereitungen für das Fest. Um halb elf lagen die Zwillinge endlich im Bett, und sie beide standen in der Küche, wo ein Wirrwarr von Zutaten die Arbeitsfläche bedeckte. Saucen für das Fondue mussten angerührt werden. Obwohl der Herd ausgeschaltet war, bedeckte milchiger Dunst die Terrassentür.
Hartmut nahm einen Teller aus der Spüle und stellte ihn auf die Anrichte. Draußen erklang das trockene Klacken einer Axt; Heiner bearbeitete den Stamm des Weihnachtsbaums, damit er in seine Halterung passte.
«Merkst du, dass du mir die Sachen in den Weg stellst?«, fragte Ruth.
«Ich weiß nicht, wo sie hingehören.«
«Frag mich, ich müsste es wissen.«
«Die Teller?«
«Da. «Mit dem Kinn wies Ruth auf einen Hängeschrank und zog den Kopf ein, als Hartmut ihn öffnete.»Du musst jetzt ausgerechnet an dieses Fach, ja?«
«Ich sollte dir zur Hand gehen.«
«Setz dich hin und probier das!«Ungeduldig hielt sie ihm ein Schälchen mit hellgelber cremiger Sauce hin. Die Müdigkeit in ihrem Gesicht sah aus wie Unzufriedenheit, und sie hatte schon dort gesessen, als Hartmut am Nachmittag angekommen war.
«Was ist das?«
«Soll gut zu Fonduefleisch passen.«
«Schmeckt jedenfalls gut.«
«Nicht zu viel Mayonnaise? Zu wenig Curry? Mehr Salz?«
Er schüttelte den Kopf, und Ruth deckte das Schälchen mit Zellophanfolie ab und schob es beiseite.
«Glaubst du«, hakte Hartmut nach,»dass deine Söhne Weihnachten in weniger guter Erinnerung behalten werden, wenn es nur drei Saucen zum Fondue gibt?«
«War das eine philosophische Frage?«Sie schaute vom Rezept auf und fixierte ihren Bruder.»Professor Hainbach?«
«Du siehst müde aus, und wie ich die beiden kenne, essen sie sowieso Ketchup.«
«Und? Wollen wir alle morgen Abend Ketchup essen?«
«Lass uns eine Flasche Wein aufmachen und ins Wohnzimmer gehen. Es gibt etwas, das ich dir erzählen will. Das Essen können wir morgen vorbereiten. «Seit er damit begonnen hatte, seine Habil für die Publikation zu überarbeiten, brauchte er gegen Mitternacht einen Schluck Alkohol, um die kreiselnden Gedanken anzuhalten. Seit zwei Wochen galt das auch für die arbeitsfreien Abende.
«Morgen muss ich den Baum schmücken, einen Kuchen backen, das Fleisch vom Metzger holen, das Baguette vom Bäcker, unsere Mutter will zum Friseur gefahren werden und…«
«Wir sind zu dritt, Ruth. Du brauchst nicht alles alleine zu machen.«
Sie tauschten einen Blick. Die Auseinandersetzung hatte vor langer Zeit begonnen und zog sich offen oder verdeckt durch alle ihre Gespräche. Draußen stieß Heiner einen kräftigen Fluch aus.
«Ich weiß, was du denkst«, sagte er.»Der hat gut reden. Frei wie er ist von familiären Verpflichtungen.«
«Du glaubst, du weißt, was ich denke?«
«Habt ihr Wein im Keller?«
«Heiner hat welchen für morgen Abend gekauft.«
«Kaufen wir eben morgen früh eine Flasche nach. Übrigens scheinst du nicht neugierig zu sein, was ich dir erzählen will.«
Ruth seufzte, antwortete aber nicht. Hartmut stand bereits in der Tür.
«Wir haben uns seit einem halben Jahr nicht gesehen«, sagte er.
«Weil du keine Zeit hast. Obwohl es bloß zwei Stunden sind von Dortmund.«
«Jetzt bin ich hier. Ich hol den Wein rauf und… Was?«, fragte er, weil Ruths Blick weniger Einverständnis als Resignation signalisierte.
«Vielleicht frage ich nicht, weil ich schon weiß, was du mir erzählen willst. Weil es nicht schwer zu erraten ist. Abgesehen von ihrem Namen natürlich, der das Neueste an der Geschichte sein dürfte. Um nicht zu sagen, das einzig Neue. «Damit wandte sie sich wieder ihren Rezepten zu.»Die Frage ist also nicht, was du zu erzählen hast, sondern ob ich es hören will.«
«Du könntest dich irren.«
«Okay. Wie heißt sie?«
«Nicht zwischen Tür und Angel. Räum die Sachen weg, ich bin gleich wieder da. «Er ging durch den kühlen Flur und die Treppe hinab. Weiß getünchte Wände mit Regalen voll ausrangierter Spielsachen. In der Vorratskammer empfing ihn der Duft geräucherter Würste. Getrocknete Pflaumen lagen auf einem Backblech. Da Ruth und Heiner selten Wein tranken, standen lediglich zwei Flaschen im Regal. Fröstelnd studierte Hartmut die Etiketten, aber wie immer in den letzten zwei Wochen schweiften seine Gedanken ab, sobald er sich zu sammeln versuchte. Kehrten zurück zu der schüchternen Selbstverständlichkeit, mit der sie am vorletzten Freitag seine Wohnung betreten hatte. Nach der brieflichen Ankündigung ihres Besuchs, weil sie in Berlin kein Telefon besaß. Zwei Tage lang war er wie aufgedreht durch die Zimmer gelaufen. Als sie hereinkam, hing sein Blick an ihr, während ihrer über die spärliche Einrichtung wanderte. Dann aus dem Fenster auf den Balkon. Ihre schlanke Silhouette verharrte vor dem grau verhangenen Dortmunder Himmel. Lächelnd, so als habe sie entweder nicht bemerkt oder nichts dagegen, dass es nur ein Bett gab, drehte sie sich zu ihm um. Ob sie draußen rauchen dürfe?
Als Hartmut mit einer Flasche Riesling in der Hand nach oben kam, war in der Küche das Licht gelöscht. Ruth stand im Wohnzimmer vor dem Platz, den sie am Nachmittag gemeinsam frei geräumt hatten für den Weihnachtsbaum. Rotes Papier lag über dem Parkett. Ein Karton mit Baumschmuck stand geöffnet auf der Ofenbank.
«Ich fürchte, wir werden die Spitze kappen müssen«, sagte sie.
«Die Spitze kappen?«Er nahm den Flaschenöffner vom Tisch und drehte ihn in den Korken.
«Heiner sagt, der Baum ist zwei fünfzig hoch. Plus zehn Zentimeter Halterung.«
«Abschneiden, was übersteht — mein Motto beim Überarbeiten der Habil.«
«Es sieht schöner aus mit Spitze.«
«Vielleicht kann Heiner ihn schräg in die Halterung stecken, dann…«Er brach den Satz ab, weil Ruth sich umdrehte und ihn ansah. Sie war breiter geworden um die Hüften und strahlte nicht mehr den Chic der jungen Mutter aus, sondern trug Jeans, Pulli und ausgetretene Hausschuhe.
«Warum hab ich das Gefühl, dass du ein bisschen belächelst, was ich hier mache.«
«Das tue ich nicht.«
«Was ist lächerlich daran, mehr als das eigene Glück im Auge zu haben?«
«Es stimmt nicht, Ruth. Es ist dein Leben, und ich schaue nicht darauf herab. Im Gegenteil.«
«Inzwischen bist du Professor«, sagte sie, als verfolge sie einen anderen Gedanken,»aber du beschwerst dich, weil es nur eine Vertretung ist und du nach Dortmund ziehen musstest. Als würdest du nicht sehen, was du erreicht hast.«
«Warum trinken wir nicht einfach einen Schluck und entspannen uns. Dank deines Einsatzes wird es ein schönes Weihnachtsfest werden. Ich belächele das nicht. «Er hielt ihr das Glas hin.»Mein Punkt war lediglich, dass ich es nach dem Ende der Vertretung schwer haben werde, eine ordentliche Professur zu ergattern. Der Goldrausch ist vorbei, und ich hab zu lange gebraucht für meine Habilitation.«
«Vielleicht warst du abgelenkt von anderen Projekten.«
«Ja, war ich. Deshalb muss ich jetzt publizieren, was das Zeug hält. Was mir wenig Zeit lässt für das, was du herablassend ›andere Projekte‹ nennst, weil du mir unterstellst, es wäre nur Zeitvertreib. Es ist aber mein Leben. Wirst du dieses Glas nehmen oder nicht?«
Tatsächlich hatte er sich fast schon entschlossen, das Angebot aus Dortmund abzulehnen, als Professor Simon ihn zu sich bestellte und keinen Zweifel daran ließ, was von ihm erwartet wurde. Dieses eine Mal habe er sich mit Erfolg für ihn eingesetzt. Sollte Hartmut die Chance verstreichen lassen, werde er fortan auf sich allein gestellt sein, und der Vertrag an der TU laufe definitiv aus. Offenbar hatte dem Chef jemand geflüstert, dass sein Schützling nicht erpicht darauf war, Berlin zu verlassen. Mit Spekulationen über die Gründe hielt Professor Simon sich nicht auf. Die letzten drei Jahre hatten seinen Geduldsfaden zum Zerreißen gespannt. Hartmut war keine Wahl geblieben. Seit Oktober konnte er vom Schreibtisch aus hören, wenn im Westfalenstadion ein Tor fiel. Ansonsten ignorierte er die Stadt, so gut es ging.