«Zum Wohl«, sagte er.»Auf ein harmonisches Weihnachtsfest.«
Ruth setzte sich auf die Ofenbank und drehte ihr Glas in der Hand. Im Regal stand ein alter Schwarzweiß-Fernseher. Der graue Sofabezug glänzte vor Abnutzung, und an einigen Stellen quoll die Polsterung durch. Der gesamten Einrichtung war anzusehen, wie die monatlichen BHW-Raten drückten. Von seinem Angebot, finanziell auszuhelfen, wollte Ruth bisher nichts wissen.
«Heiner hat mich darauf aufmerksam gemacht«, sagte sie.»Vor ein paar Wochen, nachdem ich mit dir telefoniert hatte. Er meinte, jedes unserer Gespräche beginnt damit, dass ich dich frage, wie’s dir geht.«
«Er hört mit, wenn wir telefonieren?«
«Wir sind verheiratet, ich schicke ihn nicht aus dem Zimmer.«
«Natürlich nicht. Aber wenn es um mich geht?«
«Das ist der Punkt. Heiner hat gefragt, ob du dich später auch erkundigst, wie es mir geht. Was es in meinem Leben Neues gibt. Und ich wollte sagen: Ja, natürlich tut er das. «Als wäre sie innerlich nicht bei der Sache, stand sie von der Ofenbank auf und zupfte eine Falte aus dem roten Packpapier. Dann setzte sie sich wieder und trank.
«Tue ich das nicht?«
«Normalerweise ist dringlicher, was in deinem Leben passiert. Wie es dir geht. Meistens nicht so gut, oder jedenfalls könnte es besser sein. Bei mir passiert wenig, nicht wahr? Worüber ich mich nicht beklage, ich hab mich so entschieden und würde es höchstens im Kleinen anders haben wollen. Zum Beispiel stört es mich, dass ich kein Abitur habe. Ist mir neulich klar geworden, als wir mit Freunden gewandert sind. Oder ein bisschen Geld verdienen, halbtags. Wir könnten es gebrauchen, aber ob ich mir den Schichtdienst im Krankenhaus antun will? Ich suche nach anderen Möglichkeiten. Hab ich dir erzählt, dass ich Mitglied bei den Grünen bin?«Ihre Miene hellte sich auf, als hätte sie einen guten Witz gemacht.»Hättest du mir nicht zugetraut, was? Du dachtest, deine Schwester kann nur Fonduesaucen. Stattdessen werde ich radikal.«
«Das meintest du mit Halbtagsjob — du willst in die Politik gehen?«
«Was heißt schon Politik. Ich wurde gefragt, ob ich fürs Stadtparlament kandidieren will. Mal sehen. Warum eigentlich nicht?«
«Wieso kandidierst du nicht für die SPD?«
«Du hältst es wahrscheinlich für spleenig, aber ich hab mich gefragt, ob es eine Sache gibt, dir mir wirklich am Herzen liegt. Gibt es. Ich will nicht, dass meine Kinder in einer Welt voller Atomraketen aufwachsen.«
Um sich nicht erneut vorhalten zu lassen, er belächele das Tun seiner Schwester, verzichtete Hartmut auf eine Erwiderung. Die Friedensbewegung hatte am Rehsteig schon vor längerer Zeit Einzug gehalten. An der Wand hing ein Poster mit Zitaten von Heinrich Böll und Ernesto Cardenal, die ein wenig gravitätisch von Schreibtischen handelten: den unschuldigen der Dichter und dem nur unschuldig aussehenden von Otto Hahn. Je nachdem in welcher Stimmung Heiner war, könnte es auch morgen beim Fondue vor allem um atomare Bedrohung gehen.
«Okay«, sagte er.»Du meinst also, ich erkundige mich zu selten danach, wie es dir geht. Kann sein. Ich bin davon ausgegangen, dass du glücklich bist mit deinem Leben. Nicht erst in letzter Zeit, immer schon. Damals schon.«
«Trotzdem hab ich beschlossen, in Zukunft weniger unserer Mutter zu ähneln. Irgendwann muss man anfangen, und ich hab mir gesagt: am besten jetzt. «Ruth lächelte in den leeren Raum, den ab morgen der Weihnachtsbaum füllen würde. Dann schaute sie wieder zu Hartmut.»Damit zu dir und deinem bewegten Leben. Du bist verliebt, das hab ich dir sofort angesehen, als du durch die Tür gekommen bist. Wie heißt sie nun?«
Hartmut setzte sich in einen der Sessel. Unter der Couch entdeckte er eine Spielfigur von der letzten Partie Mensch ärgere Dich nicht. Wahrscheinlich würde es ihm nicht gelingen, seiner Schwester zu erklären, warum diesmal alles anders war. Das erste Zusammentreffen lag zwei Jahre zurück, aber er erinnerte sich an jedes Detail. Wieder ein zaghafter Beginn im Winter, nach den heftigsten Schneefällen des Jahres und einer Party bei Kollegen von der TU. Für seine Verhältnisse hatte er viel getrunken und sich trotzdem nüchtern gefühlt. Als die Feier zu Ende ging, stiegen einige Unermüdliche in die U-Bahn nach Tempelhof, um sie am Platz der Luftbrücke wieder zu verlassen. Geparkte Autos bildeten weiße Skulpturen, Schneebälle flogen, Flaschen kreisten. Ausgelassene Stimmung allenthalben. Die Luft war klar und kalt, und die Wolken über der Stadt zogen langsam nach Osten. Was sie vorhatten, war eine nächtliche Schlittenpartie auf dem Kreuzberg.
Tereza hatte zu viel Bowle getrunken. Im Gehen schlang sie beide Arme um ihn und begann, ihm auf die Nerven zu gehen mit ihrer Anhänglichkeit. Beim Nationaldenkmal standen vermummte Gestalten und applaudierten, wenn in der Nähe ein Schlitten umkippte. Hier und da leuchtete Zigarettenglut auf und erhellte Gesichter, die in der nächsten Sekunde wieder verschwanden. Um sich aus ihrer Umarmung zu befreien, fasste er Tereza bei den Schultern und sagte:»Lass uns Schlitten fahren.«
«Zu gefährlich. Ich bin noch nie Schlitten gefahren.«
«Warte hier. Ich besorg uns einen. «Er ließ sie stehen und ging ein paar Schritte den Hang hinunter. Dietmar Jacobs und seine Freundin kamen ihm entgegen und zogen einen Holzschlitten hinter sich her. Der Schnee war so tief, dass Hartmut bis zu den Schienbeinen versank.
«Was dagegen, wenn ich den mal ausleihe für eine Fahrt?«
«Hainbach, alter Genosse!«Dietmar trug eine Nickelbrille, halblange Haare und kultivierte auch sonst seine Ähnlichkeit mit John Lennon. Die Frau neben ihm kannte Hartmut nur vom Sehen.»Ich dachte, du wärst schon weg.«
«Nur für zwei oder drei Fahrten. Wie ist die Bahn?«Sie kannten einander kaum, auch wenn Dietmar stets so tat, als wären sie beste Freunde.
«Hier, nimm. Die Bahn ist so frei wie wir. Carpe noctem.«
«Du solltest dir öfter mal selbst zuhören«, sagte Dietmars Freundin. Den Rest bekam Hartmut nicht mit, weil die beiden weitergingen und er den Schlitten in Augenschein nahm. Ein ähnliches Modell hatte er früher besessen, bloß mit stabileren Sitzleisten und rostfreien Kufen. Er zog ihn hinter sich her und fand Tereza bei einer Gruppe von Leuten, die ihm schon auf der Party aufgefallen waren, weil sie den ganzen Abend in der Küche debattiert hatten, statt zu tanzen. Den Rothaarigen erkannte er wieder, der immer noch mit großen Gesten in die Runde dozierte, neben sich eine dunkelhaarige Schöne, rauchend und mit verlorenem Blick.
«Bereit zur Abfahrt. «Er tippte Tereza auf die Schulter, sah in die Runde und versuchte vergebens, dem Blick der jungen Frau zu begegnen. Kurz darauf saß er hinten auf dem Schlitten und Tereza vor ihm zwischen seinen Beinen. Sie bekreuzigte sich und sagte:»Manchmal auf Partys habe ich den Eindruck, du wärst lieber alleine dort. Ohne mich.«
«Unsinn.«
Sie legte den Kopf zurück und versuchte, ihn anzusehen.
«Es ist nicht meine Art, mich zu beschweren, oder?«
«Halt dich fest, am besten an meinen Knien. Und pass auf, dass die Schnur nicht unter die Kufen gerät.«
«Es ist auch keineswegs so, dass ich mir in der Rolle gefallen würde.«
«Die Füße vorne auf die Querstange. «Mit einem kräftigen Stoß schob er den Schlitten an, hielt Tereza fest und fasste mit der anderen Hand an die Sitzleiste. Der Schlitten fuhr zwei Meter, dann blieb er stehen. Tereza nickte:»Es ist weniger gefährlich, als ich dachte.«