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Nach der Bescherung fährt Hartmut nach Arnau, wo seine Eltern wartend am Küchentisch sitzen. Eine Wäschewanne voller Geschenke steht in der Mitte des Raums, der so überheizt ist, dass ihm beim Eintreten der Schweiß ausbricht. Dieselben Möbel, dieselbe niedrige Decke, an die er fast mit dem Kopf stößt. Derselbe Brandgeruch des Ofens, wie eine unsichtbare Spur aus der Vergangenheit. Seine Mutter schärft ihm ein, am Gefrierhaus zu halten, um Eis für die Kinder einzupacken.

Draußen kommt ihm die Nacht kühler vor. Der Himmel ist klar, und aus den Fachwerkhäusern ringsum dringt kein Laut, nur das Blinken von elektrischer Weihnachtsdekoration. Mit einem Stöhnen hievt er die Wanne in den Kofferraum. Von der Haustür folgen ihm bedächtige Schritte und das nervöse Licht einer Taschenlampe.

«Alles klar?«, fragt er, als alle angeschnallt sind. Seine Mutter legt ihm eine Hand auf die Schulter.

«Zum Gefrierhaus, ja.«

Es handelt sich um das Relikt aus einer Zeit, als private Tiefkühlschränke die Ausnahme waren. Ein garagengroßer Bau mit dicken Glasziegeln anstelle von Fenstern, der jetzt beherbergt, was die Geräte zu Hause nicht fassen können. Drinnen empfangen ihn Kälte und ein leises Summen. Gewölbte, nummerierte Schranktüren, jeweils drei Reihen übereinander. Die Neonröhren an der weißen Decke tauchen den Raum in grelles Licht. Im Fach mit der Nummer sieben erkennt er, nachdem der Eisdunst sich verzogen hat, die vertraute Ordnung gestapelter Tupperdosen. ›Rhabarber gehackt, Juni 1984‹ und ›Apfelbrei, Oktober 1985‹ steht auf farbigen Klebeschildchen.

Einen Moment lang hält Hartmut inne und horcht. Er spürt seinen Puls schneller werden und muss der Versuchung widerstehen, den Kopf in die von einer Eiskruste verengte Öffnung zu zwängen. Wie befürchtet, hat Ruth ihn nicht verstanden gestern. Oder wollte nicht. Mit unbewegter Miene hörte sie sich an, wovon er mit steigender Erregung erzählte: dem unverhofften Wiedersehen im Foyer der Schaubühne, den gemeinsamen Nachmittagen im Café, dem Ausflug nach Ost-Berlin und seiner Angst vor einem falschen Schritt. Ruth saß auf der Ofenbank und gab sich keine Mühe, ihre Ungeduld zu verbergen. Als er fertig war, erwiderte sie zuerst gar nichts, sondern sah zu, wie er sich den Rest des Weins eingoss. Sie nippte noch am ersten Glas. Nebenan im Badezimmer stand Heiner unter der Dusche.

«Hast du noch Kontakt zu Tereza?«, fragte sie schließlich. Als wäre das einzig Interessante an seiner Geschichte, was er nicht erzählt hatte.

«Was? Wieso fragst du das jetzt?«

«Ich will dich das seit Wochen fragen. Irgendwann fiel der Name nicht mehr. Als wolltest du sie totschweigen.«

«Hast du mir zugehört, Ruth? Hörst du, was ich dir sagen will?«Er spürte, wie seine Hand sich fester um das Weinglas schloss.

«Ehrlich gesagt, bin ich nicht sicher. Du hast diese Maria vor Jahren zum ersten Mal getroffen. Und sie danach zwar lange nicht gesehen, aber eigentlich warst du die ganze Zeit über verliebt in sie. Richtig? Du warst mit Tereza zusammen, hast sie im Sommer mit… na? Die mit dem kleinen Sohn, während Tereza bei ihrer Familie war.«

«Worauf willst du hinaus?«

«Aber verliebt warst du die ganze Zeit in eine dritte Person. Ist es das, was du mir sagen willst?«

«Ja«, presste er hervor. Es war ein Fehler gewesen, Tereza letztes Jahr mit nach Bergenstadt zu bringen. Sie und Ruth hatten sich auf Anhieb wie Schwestern verstanden.

«Okay. Und jetzt sprichst du davon, dein Leben zu ändern. Könntest dir plötzlich doch vorstellen, Kinder zu haben. Mit einer Frau, die dich ein Mal in Dortmund besucht hat. Ein Mal!«

«Nächstes Jahr fahren wir zusammen nach Portugal. Natürlich wird es nicht leicht, sie davon zu überzeugen, ausgerechnet nach Dortmund zu ziehen. Dieses Angebot hätte zu keinem schlechteren Zeitpunkt kommen können.«

Ruth schüttelte den Kopf. Störrisch wie ein Kind.

«Tereza hat dich geliebt«, sagte sie.»Sie hätte dich geheiratet. Aber du musstest sie betrügen, und jetzt tust du so, als hätte es sie nie gegeben. Weil du die Liebe deines Lebens getroffen hast, die sich gerade erst von ihrem Freund getrennt hat. Oder vielleicht noch nicht? Tut mir leid, Hartmut. Ich muss zurück in die Küche. «Sie stand auf, und er befahl sich, das Weinglas nicht gegen die Wand zu schleudern. Gegen das Poster, auf dem zwei alte Männer über Schreibtische faseln, als wäre das ein Ort, von wo aus die Welt sich verstehen ließe. Auf einmal schlug seine Wut um in den kalten Wunsch zu verletzen. Er stellte das Glas auf den Tisch, sah seiner Schwester in die Augen und sagte:»Vielleicht gönnst du mir mein Glück nicht. Vielleicht ist das dein Problem.«

Die Wirkung seiner Worte erkannte er sofort. Ruth hielt in der Bewegung inne, und er musste die Luft anhalten. Hätte er nicht die Badezimmertür gehört und Heiners Schritte auf dem Flur, wäre er auf der Stelle aus dem Raum gestürzt.

«Das ist das Gemeinste, was du je zu mir gesagt hast«, flüsterte sie mit zitternden Lippen.»Ich gönne dir dein Glück nicht? Mein Problem ist ein ganz anderes. Ich finde keine Antwort auf die Frage, die ich mir kürzlich gestellt habe. Wie ich eigentlich von dir denken würde, wenn du nicht mein Bruder wärst.«

Schwer atmend hält Hartmut die Dose mit den Eisröllchen in der Hand. Seine Finger haben Spuren hinterlassen im eisigen Reif. Über ihm geben die Neonröhren ein anhaltendes Summen von sich, das er die ganze Zeit gehört hat, aber jetzt erst zuordnen kann. Seine Eltern fragen sich sicherlich, wo er bleibt. Mit dem Eis in der Hand geht er zurück zum Auto und steigt ein in ihre Unterhaltung über den abendlichen Gottesdienst. Wer anwesend war und wer nicht, wer Heiligabend mit den Kindern verbringt, und wer nicht mal mehr weiß, wo die wohnen. Ein Gespräch über den zu dünn besetzten Sopran im Kirchenchor und was für eine Welt das ist. Die eigenen Kinder! Als sie fünf Minuten später am Rehsteig halten, greift sein Vater nach dem Gurt und sagt:»Fohr net so dichte on’n Boddstäh droh, sussd komm äich net so gudd raus.«

Dann feiern sie Weihnachten, alle zusammen. Es gibt eine zweite Bescherung, mit den üblichen Umarmungen und dem abwehrenden Dank. Seine Mutter protestiert, dass der Bademantel viel zu teuer für sie sei. Sein Vater hält einen großformatigen Bildband auf Leseabstand und behauptet, sich für Polarexpeditionen schon immer interessiert zu haben. Die Kerzen brennen, Heiner sammelt Geschenkpapier in einen ausgedienten Karton, und die Zwillinge spielen mit ihren ferngesteuerten Autos. Als Hartmut seinem schlechten Gewissen in die Küche folgt, findet er Ruth beschäftigt damit, die Fonduesaucen in kleine Schälchen zu füllen. Auf Tellern türmen sich Würfel von Rind- und Schweinefleisch. Eine Pyramide aus kleinen Hackbällchen ist für die Gebissträger der Familie gedacht. Eingelegte Gurken, Silberzwiebeln und rote Bete liegen zum Abtropfen im Sieb, dazu gibt es Kräuterbutter, frisches Baguette und grünen Salat. Der Geruch von Brennspiritus wabert durch den Raum. Hartmut bleibt in der Schiebetür stehen. Eins der Schälchen hat eine abgeplatzte Stelle und muss ausgetauscht werden. Ruth schaut nur kurz von ihrer Arbeit auf.

«Sag lieber nichts.«

«Kann ich dir helfen?«

«Nicht hier. «Mit einer Hand zieht sie ihn in die Küche und schiebt mit der anderen die Tür zu. Eigentlich würde sie jetzt ein verschwörerisches Lächeln aufsetzen, aber das lässt die Stimmung zwischen ihnen nicht zu. Er hat sich sofort für seinen Ausfall entschuldigt, und seine Schwester hat es akzeptiert, alles andere wird Zeit brauchen.»Versuch, deine Neffen für diese Märklin-Kästen zu begeistern. Unser Vater schenkt ihnen die immer wieder, er lässt sich nicht davon abbringen.«

«Weil es gutes Spielzeug ist.«

«Es ist wunderbares, hochwertiges Spielzeug, aber meine Söhne stehen gerade auf alles, was Batterien hat und Lärm macht. Ich hab ihm das zu erklären versucht. Du weißt, wie er ist.«

«Nein. Wie ist er?«

«Hartmut«, sagt sie,»sei heute bitte kein Scheusal! In drei Tagen wandert das Zeug auf den Speicher, aber heute Abend, solange unser Vater hier ist, will ich, dass die beiden damit spielen. Was sie auch tun werden, wenn ihr geliebter Onkel mit ihnen spielt. Okay?«