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«Ist es eigentlich schwierig, es allen Leuten recht zu machen? Ich meine: allen gleichzeitig?«Er meint das weniger ironisch, als es klingt.

«Das kommt auf den Grad der Unterstützung an, den man dabei erfährt.«

Er nimmt ein Gurkenstück, dippt es in eine der vier Fonduesaucen und steckt es sich in den Mund. Aus dem Wohnzimmer kommt ein doppeltes Juchzen. Florian und Felix lassen ihre Elektroautos gegen jedes erreichbare Hindernis knallen.

«Weil wir gestern davon gesprochen haben«, sagt er kauend.»Hast du ihm je zum Vorwurf gemacht, dass du kein Abitur machen durftest?«

«Nein, wozu?«

«Damit er’s weiß.«

«Und es beim nächsten Mal besser macht?«Sie stellt das letzte Schälchen ab, tritt einen Schritt zurück und lehnt sich gegen die Spüle. Hat sich geschminkt, zur Feier des Tages, und trägt unter ihrer Küchenschürze eine weiße Bluse.

«Du meinst«, sagt er,»du hast es ihm einfach verziehen.«

«Ich hab mir gesagt, manche Dinge sind, wie sie sind. Er hat sich fünfzig Jahre lang den Rücken krumm gearbeitet, und meine Kräfte sind ebenfalls begrenzt. Ich erziehe lieber meine Kinder als meine Eltern.«

«Irgendwie bewundere ich dich.«

«Irgendwie bewundere ich dich auch. Jetzt geh und spiel mit deinen Neffen. In zwanzig Minuten gibt’s Essen.«

«Ich bemühe mich, weißt du. Manchmal glaube ich, es gelingt mir. Und manchmal schaue ich ihn an und… Bemerkst du keine Fortschritte?«

«Man sieht, dass du dir Mühe gibst. «Bevor er das nächste Stück nehmen kann, hebt sie drohend die Hand, aber ihre Stimme bleibt ruhig.»Und manchmal sieht man, wie du ihn anschaust.«

«Früher hast du dir immer die Augen zugehalten. Wenn es mal wieder so weit war. Wenn ich angeblich was verbrochen hatte.«

Das heiße Öl in den beiden Fonduetöpfen gibt ein leises Knacken von sich. Ruths Blick ruht auf ihm, und ihn überkommt ein tröstliches Wissen darum, wie lange sie einander kennen. Wie unauflöslich das ist und alles Verstehen ebenso umfasst wie die Missverständnisse. Ruth nickt, als hätte sie dasselbe gedacht.

«Du musstest das jetzt sagen, oder?«

«Ja, musste ich.«

«Manchmal frage ich mich, ob du dein ganzes Leben mit dieser Wut im Bauch rumlaufen willst. Dann sage ich mir, dass ich kein Recht habe, das zu beurteilen. Es fällt mir bloß schwer, es zu akzeptieren.«

«Und ich frage mich, warum ich derjenige sein soll, der…«

«Weil es die einzige Möglichkeit ist«, unterbricht sie ihn. Langsam bindet sie sich die Schürze ab und hängt sie zurück an den Haken. Schaut auf die Anrichte, auf ihre Fingernägel, durch die Küchentür nach draußen.»Heute Mittag wollte ich Nagellack auftragen und hab festgestellt, ich hab keinen mehr. Was sagt uns das?«

«Du siehst gut aus, wie du bist.«

«Weißt du, es gibt eine Frage, die ich ihm gerne stellen würde: Warum er mich anders behandelt hat. Aber dafür bin ich zu feige, das gebe ich zu. Ich weiß nicht mal, ob ich mich vor der Frage fürchte oder vor der Antwort.«

«Ganz einfach, weil du ein Mädchen warst.«

«Das ist alles?«

«Glaub mir. Ich hab lange genug darüber nachgedacht. Das ist alles.«

Ruth zuckt mit den Schultern. Es könnte alles so schön sein, hat sie beim letzten Mal gesagt. Wenn da nicht wäre, was nicht vergehen will. Im ersten Moment wollte er sie auslachen, inzwischen glaubt er, dass ihr Festhalten an dem Wunsch mehr Kraft erfordert, als die meisten Leute besitzen. Alles soll schön sein. Seine Schwester verfügt über eine seltene Art von Stehvermögen, ein besseres Wort fällt ihm nicht ein.

«Heißt das, du wirst nicht mit diesen beschissenen Baukästen spielen?«, fragt sie.

«Doch. Sobald du sagst, dass du mir nicht mehr böse bist wegen gestern.«

Ihr Seufzen ähnelt dem, das ihre Söhne zu hören bekommen, wenn sie dieselbe Bitte nach dem dritten Nein ein viertes Mal vorbringen. Die Augen beschreiben einen Kreis, die Schultern ebenso. Ruths Unfähigkeit zu lügen ist bemerkenswert.

«Nicht mehr lange«, sagt sie.»Reicht das?«

«Weil Weihnachten ist. «Er nimmt ein weiteres Gurkenstück und geht zurück ins Wohnzimmer.

Auch die letzte Stunde des Abends verbringen sie wie immer: sitzen mit vollen Bäuchen um den Wohnzimmertisch und singen. Florian spielt Flöte, und Felix hält sich die von Fondue-Öl verbrannte, in einem Salbenverband steckende Hand. Wenn Hartmut so tut, als hätte er den Text vergessen, wirft Ruth ihm einen strengen Blick zu. Zwischendurch wandern ihre Augen zu der wackeligen Konstruktion zwischen Bücherwand und Ofenbank, einem lockeren Zusammenschluss von Metallteilen, der vage Ähnlichkeit mit einer Brücke aufweist. Hartmut fühlt sich träge und zufrieden. Am Baum brennen wieder die Lichter. Seine Gedanken sind woanders.

Vor zwei Tagen hat sie von einer öffentlichen Telefonzelle aus angerufen, um ihm frohe Weihnachten zu wünschen. Jetzt hört er sich und die anderen singen, schließt die Augen, und das Licht wird morgenblau wie am Tag ihres Besuchs. Als Maria schon halb im Schlaf neben ihm lag und blinzelte, wenn er sie küsste. Er war müde, wollte trotzdem nicht schlafen und hörte draußen die Müllabfuhr durch den Hinterhof rumpeln. Eine Frage hatte ihn durch die ganze Nacht begleitet. Der kleine Widerhaken, der auf merkwürdige Weise den Genuss noch steigerte. Lag die Antwort in der Art, wie sie ihn hinterher an sich zog? Mit einer Hand bedeckte er ihre Augen und fragte. Noch einmal huschte ein Lächeln über ihre Züge. Die Andeutung eines Kopfschüttelns. Ob er sie denn gar nicht kenne? Sie habe schon seit dem Kuss in Ost-Berlin nicht mehr mit Falk geschlafen.

~ ~ ~

8 Am späten Sonntagmorgen stehen sie zu dritt neben dem Auto. Vogelgezwitscher füllt die wärmer werdende Luft, und über Wiesen und Maisfeldern hängt ein trockenes Knistern. Géraldine hält sich abseits, während die beiden Männer einander umarmen, auf den Rücken klopfen und baldiges Wiedersehen geloben. In den Platanen ringsum spielt der Wind.

«Jederzeit. «Bernhards Handbewegung deutet an, dass sein Haus für Hartmut so offensteht wie die Tür, durch die sie eben nach draußen gegangen sind.»Egal, ob alleine oder mit Maria. Notfalls sogar mit Vorankündigung.«

Einen Moment lang halten sie einander an den Schultern, und Hartmut denkt, dass es sich eher nach Aufbruch als nach Abschied anfühlt.

«Informiert mich rechtzeitig über den Termin«, sagt er.

Géraldine löst die Verschränkung ihrer Arme und tritt auf ihn zu.

«Merci«, versteht er, und dass sie sich gefreut habe, seine Bekanntschaft zu machen. Sein Besuch sei ein Vergnügen und für Bernhard wirklich wichtig gewesen. Lächelnd küsst sie ihn auf beide Wangen und bewegt sich mit einem jugendlichen Schwung, der ihn an Maria erinnert. Das blaue Sommerkleid passt gut zu ihrer schlanken Statur und den glatten langen Haaren. Im Zurücktreten legt sie die Hand auf eins der gestern aufgestellten Warnschilder: Propriété privée, chasse strictement interdite! Dann gibt es für niemanden mehr etwas zu tun, außer den Abschied um einige Sekunden hinauszuzögern durch diese oder jene Bemerkung.

«Du weißt Bescheid, bei Tartas auf die Schnellstraße, dann immer Richtung Bayonne. «Bernhard deutet nach Südwesten.»Grüß deine Tochter, wenn du ankommst. Sie ist natürlich auch eingeladen.«

«Nochmals danke für alles. «Beim Öffnen der Fahrertür schlägt Hartmut Hitze entgegen, aufgeladen mit dem Geruch von warmem Kunststoff. Er spielt mit dem Schlüssel in der Hand und glaubt, wie immer im letzten Moment, etwas Wichtiges vergessen zu haben.

«Soll ich mit dem Fahrrad vornewegfahren?«, fragt Bernhard.»Dich aus dem Ort geleiten?«