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Verwundert klang sie, aber so gründlich er nach versteckten Vorbehalten fahndete, er konnte keine entdecken. Santiago im Sommer sei die reine Wucht, schrieb seine Tochter. Dass es ihm gefallen werde, könne sie nicht garantieren, aber auf jeden Fall wäre es besser, als alleine in Bonn herumzusitzen. Solle sie seine Mail als unverbindliche Anfrage verstehen, oder sei er bereits in den gewiss mehrstufigen Entscheidungsprozess eingetreten? Für den Fall, dass er ihre Ironie ebenso wenig verstand wie sie die seine, folgte ein gelbes Grinsegesicht. Die Anrede bestand aus einem spanisch flotten Hola, die letzte Zeile lautete: Grüß mir den Rhein und pack die Koffer, Flippa.

«Gute Nachrichten?«Mit einem Glas Wasser in der Hand stand Bernhard in der offenen Terrassentür. Er hatte geduscht und ein frisches Hemd angezogen. Géraldine konnte jeden Moment eintreffen.»Deinem Gesicht nach zu urteilen, ja.«

«Meine Tochter scheint bereit zu sein, mich in Santiago zu empfangen. Eine Selbstverständlichkeit, könnte man meinen, aber was ist heute noch selbstverständlich.«

«Komm mit, ich will dich was fragen.«

«Und das kannst du nicht hier?«

Ohne zu antworten, drehte sich Bernhard um und ging zurück ins Haus. Die Treppe hinauf. Hartmut stellte seinen Laptop beiseite und folgte ihm.

Licht kam aus der offenen Tür des Studios. Beim Eintreten fiel Hartmuts Blick auf einen breiten schweren Schreibtisch. Links und rechts stapelte sich Papier, die Bücher in den deckenhohen Regalen waren alphabetisch nach Autoren geordnet, genau wie früher im Bonner Büro. Als würde er ihn in seiner Sprechstunde empfangen, saß Bernhard auf dem Schreibtischstuhl, schob einen dicken Blätterstapel beiseite und sagte:»Es ist immer wieder verwunderlich, wie viele Wörter man braucht, um ganz gewöhnliche Dinge zu sagen. Wenn man genau sein will.«

Da es keinen zweiten Stuhl gab, blieb Hartmut in der Tür stehen. Draußen fielen Sonnenstrahlen durch die Wolken wie durch ein japanisches Papierfenster. Ein paar Feldhasen hoppelten zwischen den Bäumen umher.

«Deine Arbeit der letzten Monate?«, fragte er.

«Es gibt noch mehr. Ich bin dabei, mich umzugewöhnen, das braucht Zeit. Man schreibt anders, wenn man sich an niemanden richtet. «Bernhard nahm ein paar Blätter in die Hand, als wollte er sie wiegen, und legte sie wieder zurück.»Manchmal denke ich, dass ich ganz neu schreiben lernen müsste.«

Gegen den Türrahmen gelehnt, fühlte Hartmut sich in die Position von Peter Karow versetzt, letzte Woche im Verlag. Mit verschränkten Armen musterte er den Mann auf dem Stuhl und war nicht sicher, was in dessen Kopf vor sich ging. Das Zimmer berührte ihn seltsam. Aufgeräumt, vorzeigbar und gleichsam startbereit, aber der Blick aus dem Fenster ging auf nichts als Pinien und offene Felder. Nur dann ein guter Ort zum Arbeiten, wenn man seine Aufgabe genau kannte. Von einem Foto über dem Schreibtisch lächelte ihn eine Frau mittleren Alters an. Ihr freundliches ovales Gesicht wurde umrahmt von braunen Haaren. Sonnenstrahlen machten die Ränder unscharf, im Hintergrund verschwamm das Meer.

Bernhard folgte seinem Blick und nickte.

«Wir haben uns kennengelernt, als sie Freunde besuchte, die in Mimizan ein Haus besitzen. Zu viert sind sie eines Abends in die Bar gekommen und wollten Wein kaufen. Einen ihrer Freunde kannte ich flüchtig. Der meinte hinterher, er habe es darauf angelegt, uns zusammenzubringen.«

«Zwei Kinder, die schon studieren, hast du gestern gesagt. Dafür sieht sie ziemlich jung aus.«

«Beim ersten war sie zwanzig. Jetzt sind beide aus dem Haus, und Géraldine ist immer noch jung genug, was Neues anzufangen. Beinahe wie in deinem Witz. Als Lehrerin will sie nicht mehr lange arbeiten. Das möbliert ihr Leben nicht, wie man auf Französisch sagt. Treffendes Bild — das Problem ist immer, wie man’s einrichtet.«

«Sie kündigt in der Schule, du verkaufst die Bar. Klingt doch gut.«

«Und dann was? Manchmal spinnen wir rum und kommen auf die verrücktesten Sachen, einen Weinberg kaufen, in die nächste Stadt ziehen und mit Antiquitäten handeln. Ein alter Traum von ihr. Oder erst mal ein Jahr reisen, um herauszufinden, wie gut wir zusammenpassen. «Er machte eine Handbewegung, die so viel besagte wie: Setz die Reihe selbst fort.»Wie sagt man so schön? Die Welt steht uns offen.«

«Bloß, dass du gerade nicht weg willst von hier.«

«Merkt man das?«Bernhard lächelte, als hätte er sich selbst bei einem Widerspruch ertappt.»Ich hänge nicht so sehr an dem Haus, dass ich es nicht wieder verkaufen könnte. Als Hausbesitzer hab ich mich sowieso nie gesehen. Es hat bloß lange gedauert, bis ich mich eingerichtet habe in meinem post-akademischen Dasein. Wir sind derart korrumpiert durch Lohnarbeit, dass wir Tätigkeiten, die finanziell nichts einbringen, auch nicht ernst nehmen. Ich hab regelrecht trainieren müssen, mich an den Schreibtisch zu setzen ohne das Gefühl, ich würde nur posieren. Dann kam die Sache in Bordeaux, das hat auch nicht geholfen.«

«Ich bleibe dabei. Du hättest nicht weggehen sollen aus Bonn.«

Eine Meinung, die Bernhard mit einem knappen Kopfschütteln zurückwies.

«Junge Leute fit machen für den Arbeitsmarkt, ohne mich. Es war richtig zu gehen. Im Übrigen bin ich mit meiner Emanzipation ein gutes Stück vorangekommen. Ich arbeite wieder, und es macht mir Freude. Vom Sommer abgesehen, tue ich, was ich für wichtig halte. Lese, was mich interessiert, ohne zu fragen, wofür ich es brauche. Kierkegaard — je angeguckt?«

«Irgendwann ein paar Seiten. Nicht mein Gebiet.«

«Eben. Ich lese alles außer Sekundärliteratur. In Bonn hatte ich für fast nichts anderes Zeit, und neunzig Prozent waren belanglos.«

«Okay. Aber jetzt will deine Freundin dich rausreißen aus deinem neu erworbenen Gleichgewicht. Deinem Dasein als Privatgelehrter.«

«Für mehr als zwanzig Jahre hat sich ihr Leben um die Kinder und den Job gedreht. Jetzt kommt ihre Zeit. Wir sind uns wie an einer Haltestelle begegnet, bloß dass ich angekommen bin und sie aufbrechen möchte. Sie sagt, sie kann sich eine Zukunft mit mir vorstellen. Aber nicht hier, nicht so wie jetzt. Und natürlich weiß sie, wo mein wunder Punkt liegt: Es ist okay, die Karriere an der Uni aufzugeben, wenn die Bedingungen einem nicht zusagen. Aber eine Bar aufmachen?«Ein Lächeln zwischen Selbstironie und Bitterkeit huschte über sein Gesicht.»Also muss ich entweder mitgehen oder alleine zurückbleiben. Nach reiflicher Überlegung ist mir klar geworden, dass ich Letzteres nicht will. Fürs Erste reicht das. Alles andere wird sich zeigen.«

Im selben Moment näherte sich draußen ein Auto, hielt neben dem Haus und hupte kurz. Bernhard stand auf.

«Das ist sie.«

«Hast du nicht gesagt, du wolltest mich was fragen?«

«Wir überlegen zu heiraten. Würdest du mein Trauzeuge sein?«

Weil Hartmut sich nicht bewegt hatte, standen sie einander auf weniger als einer Armlänge gegenüber. Musterten sich gegenseitig, und Hartmut kam es vor, als würden sie von der lächelnden Frau auf dem Foto beobachtet.

«Das kommt überraschend. Alles andere wird sich zeigen, hast du…«

«Keine Ahnung, wie du dich zur Ehe entschlossen hast. Ich glaube, manche Schritte machen wir entweder spontan, oder wir verausgaben uns beim Nachdenken über die Frage, ob wir es wirklich wagen sollen. Wenn du’s nicht glaubst, wirf einen Blick in den Spiegel. Du fährst bis Südfrankreich, und wer weiß, wie weit du noch fahren wirst, um dich zwischen Bonn und Berlin zu entscheiden.«

«Als ob es nur um den Ort ginge.«

«Bevor ich in Bonn hingeschmissen habe, war ich ein halbes Jahr wie gelähmt, weil ich mich nicht entschließen konnte, es zu tun. Ein verlorenes halbes Jahr.«

«Gefolgt von zwei Jahren, in denen du dich gefragt hast, ob es der richtige Entschluss war.«

«Aber die waren ein Fortschritt, versteh das endlich!«In einer untypischen Geste boxte Bernhard ihm mit der Faust gegen die Brust.»Manchmal ist es sogar besser, den falschen Schritt zu tun, statt grübelnd auf der Stelle zu treten.«