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Der Anlass ist ihm entfallen, aber irgendwann hat Maria ihm gesagt, warum seine Kommentare gelegentlich vom Ironischen ins Gehässige gleiten: Weil du selbst nicht mehr so jung bist, wie du gerne wärst. Solche Hinweise meint sie nicht vorwurfsvoll, sondern gibt ihm zu verstehen, dass er in ihrer Ehe nicht der einzige aufmerksame Beobachter ist. Persona haben sie vor zwei Jahren zusammen mit anderen Bergman-Filmen auf DVD gesehen, aber von diesem war Maria am tiefsten berührt. Hinterher lag sie in seinen Armen, als müsste sie warmgehalten werden, und meinte, sie könne sich mit beiden Frauen identifizieren. Der hoffnungslose Traum des Daseins. Dass er den ersten Mojito bereits ausgetrunken hat, muss am vielen Eis liegen. Hartmut hält sein Glas in die Luft, und der gelangweilte Barkeeper reagiert sofort.

Was würde er antworten? Wann, wenn je, ist er so jung gewesen, wie er gerne sein wollte? Seins war das typische Los des Spätentwicklers, dessen beste Zeit beginnt, wenn sie bei den Alterskollegen zu Ende geht. Die erste große Liebe mit Ende zwanzig, deren Ende mit Anfang dreißig, und als er mit Maria nach Portugal fuhr, ging er bereits auf die vierzig zu. Dazwischen lag das verbissene Bemühen nachzuholen, was er davor verpasst hatte. Vater wurde er, als die anderen über Ausgehzeiten debattierten, war bei jedem Elternabend der inoffizielle Alterspräsident und zeigte erst nach dem fünfzigsten Geburtstag die Symptome einer Midlife-Crisis. Jetzt schwebt die Sechzig über dem Horizont, und der Unterschied zwischen tatsächlichem und gefühltem Alter wird immer größer.

Beim zweiten Mojito weiß er: Es ist wieder ein Abend, an dem der Durst größer wird mit jedem Schluck. Mit leeren Gläsern in der Hand scheinen auch die beiden jungen Leute zu beratschlagen, ob sie nachordern sollen. Ein rücksichtsvoll fragendes Hin und Her der Augen. Was sie besprechen, kann Hartmut nicht verstehen, aber offenbar sind sie in einem Beziehungsstadium, in dem jeder sich nur mit Entscheidungen wohl fühlt, die vorher wortreich abgestimmt wurden. Mangelnder Begriff von der kommunikativen Erschöpfung, die das nach sich zieht. Das Ausbuchstabieren von Gründen, aus denen nichts weiter folgt als der nächste Begründungszwang. Denn das ist es, was Kommunikation tut, sie produziert die Notwendigkeit von noch mehr Worten.

Nein, würde er Maria antworten. Es passiert, weil niemand da ist, der mich auf andere Gedanken bringt.

Erst als der junge Mann in seine Richtung blickt, fällt Hartmut auf, dass er den Rest seines zweiten Drinks energisch und entsprechend laut durch den Strohhalm zieht. Danach bekommt er Hunger und entschließt sich zu einem für spanische Verhältnisse zu frühen Abendessen. Die Getränke lässt er auf seine Zimmerrechnung setzen und begegnet im Aufstehen dem Blick der jungen Frau. Erneut frappiert ihn die Ähnlichkeit mit Bibi Andersson. Die Fähigkeit, gleichzeitig schüchtern und ein wenig störrisch auszusehen. Die letzte Äußerung ihres Partners scheint weniger geistreich ausgefallen zu sein, als sie gehofft hat. Auf dem Bildschirm über der Theke trägt jemand einen Astronautenanzug, verziert mit den roten Arschbacken eines Pavians.

Dass er den falschen Entschluss gefasst hat, erkennt er schon beim Betreten des leeren Speisesaals. Die Kellner tragen noch Gedecke auf, aber statt kehrtzumachen, setzt Hartmut sich ans Fenster und sieht nach draußen. Die Sonne folgt der Flugbahn einer schweren Kugel, die von den vorspringenden Felszungen ins Wasser fällt. Es ist acht Uhr, am Strand brechen die letzten Familien auf. Er trinkt einen schweren Rotwein zur Vorspeise, einen zum Entrecot de buey und dazwischen einen zum Zeitvertreib. Gestern um diese Zeit hat Géraldine für Bernhard und ihn gekocht, Pilze und frisches Gemüse aus dem Garten ihrer Eltern. Eine äußerlich unscheinbare Person mit einer ansteckenden Freude an kleinen alltäglichen Dingen. Einen Tag später isst er alleine zu Abend und kämpft gegen den Drang, den teuren Wein in sich hineinzugießen wie Wasser.

Als der Kellner fragend auf das leere Glas blickt, schüttelt Hartmut den Kopf und bittet um die Rechnung. Widersteht dem Bedürfnis, das ihn zurück in die Bar zieht, und folgt dem Ruf der Vernunft hinauf ins Zimmer. Es dauert, bis er die spanischen Instruktionen auf der Homepage des Hotels entziffert hat und Zugang ins Internet erhält.

Drei E-Mails warten im Posteingang, keine von Maria. Katharina Müller-Graf schickt mehrere PDF-Dateien zum Thema Beurlaubung. Charles Lin hat eine ›Respektvolle Frage‹. Als Drittes und ohne Betreff erreicht ihn die Nachricht einer Studentin, die sich für die verspätete Abgabe ihrer Seminararbeit entschuldigt. Sie sei krank gewesen und könne notfalls ein Attest nachreichen. Herzliche Grüße, Anna Sowieso. Hartmut muss die Augen zusammenkneifen, um den osteuropäischen Nachnamen zu entziffern. Lang wie ein Satz. Ein Gesicht dazu will sich nicht einstellen.

Charles Lin erlaubt sich, ›in einer sehr respektvollen Weise die Frage zu richten an Sie, ob Sie schon Zeit gefunden haben für meine ganz niederrangigen Gedanken zu lesen und eine kritische Meinung sich dafür zu bilden‹. Falls ja, sei er ›begierig auf Sie‹ — gemeint ist wohl ›sie‹, die Meinung. Hartmut ringt den Impuls nieder, sofort zu antworten und seinen Doktoranden zu fragen, ob er noch alle Tassen im Schrank habe. Nach sechs Tagen die Bewertung einer über fünfhundertseitigen Arbeit zu verlangen, auf diese hinterfotzige Chinesen-Art! Außerdem glaubt er sich zu erinnern, dass er Herrn Lin für Donnerstag in seine Sprechstunde bestellt hat. Mit der Verschiebung beauftragt er Frau Hedwig.

Über dem kleinen Schreibtisch hängt das pseudoimpressionistische Ölbild einer Hafenmole im Abendlicht. Zwei verschwommene Kutter, deren rötliche Schatten auf dem Wasser zu tanzen beginnen, als Hartmut daraufschaut. Fünf starke Getränke innerhalb von anderthalb Stunden, und trotzdem hat er nicht das Gefühl, aufhören zu können.

Vor der Lektüre der dritten Mail tritt er hinaus auf den Balkon. Die Sonne ist verschwunden, auf dem Parkplatz unter ihm gehen die Laternen an. Rechter Hand führt ein Trampelpfad in die nächste Bucht. Die Person, die gerade dort entlanggeht, glaubt er als die blonde Frau aus der Bar zu erkennen, alleine jetzt und mit dem Handy am Ohr. Als Hartmut drinnen sein eigenes Mobiltelefon hervorholt, stellt er fest, dass der Akku fast leer ist. Trotzdem wählt er, lässt sich zweisprachig versichern, dass seine Frau sich freut über Nachrichten nach dem Signalton und schnellstmöglich zurückrufen wird, sucht nach einem Text, flucht und legt wieder auf.

Katharinas Mail ist entweder grün unterlegt, oder es stimmt etwas nicht mit seinem Bildschirm. Jedenfalls hat sie recherchiert und kommt zu dem Schluss, es sei finanziell machbar, wenn ein paar blaue Flecken ihn nicht schmerzen. Im Internet gebe es Seiten, auf denen er sein Ruhegehalt selbst errechnen könne, zum Beispiel die des Landesamts für Besoldung und Versorgung in Düsseldorf. Bezüglich der Chancen auf Bewilligung wolle sie nicht spekulieren, sondern lieber mit einer Kollegin in der Drei-drei sprechen, die nächste Woche aus dem Urlaub zurückkomme. Es folgt der Hinweis auf eine neben ihrem Computer stehende Weinflasche und dass der Filius das Wochenende bei seinem Vater verbringt. Eigentlich habe sie ihm ihre Erkenntnisse telefonisch präsentieren wollen, aber von seiner Sekretärin die schnippische Auskunft erhalten, Herr Hainbach sei die gesamte Woche außer Haus. ›Darf man fragen, wo Du bist?‹ Den Tolstoi habe sie beiseitegelegt. Zu dick. Sie schließt mit herzlichen Grüßen und der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen. ›Deine Katharina.‹

Hartmut klappt den Laptop zu und geht zurück auf den Balkon. Die letzten hellen Streifen leuchten am Horizont. In der nächsten Bucht glaubt er, den Widerschein eines Feuers zu sehen. Vom Wind verwischte Musik und rhythmisches Händeklatschen wehen von dort herüber.

Im nächsten Moment hört er den Ton. Ein metallisches Sirren wie damals und wieder auf der linken Seite. Hartmut drückt einen Finger auf sein Ohr und könnte nicht sagen, ob das Geräusch von drinnen oder draußen kommt. Ist das die Trunkenheit? Ein einziges Mal hat er sich auf eine Website verirrt, wo Tinnitus-Patienten ihre Erfahrungen austauschen. Seitdem weiß er, dass der Trick darin besteht, sein Ohrgeräusch nicht als von außen kommende Belästigung zu betrachten, sondern als Stimme des eigenen Selbst. Die dazu rieten, taten es mit dem triumphierenden Stolz der Eingeweihten und schienen tatsächlich eine Art Dialog im Sinn zu haben: Warte nicht auf das Geräusch, sondern wende dich ihm zu und lerne, es zu verstehen. Ruf es an! Sokrates’ Daimon war vielleicht nichts anderes.