Sobald Hartmut die Augen schließt, wird der Ton lauter. Der Schwindel verstärkt sich. Mit einer Hand greift er nach dem Geländer, mit den Fingern der anderen drückt er auf seinem Ohr herum wie auf den Tasten eines Telefons. Irgendwas, das ihn normalerweise in der Bahn hält, ist auf einmal nicht mehr da. Er spürt sein Schwanken und kann nichts dagegen tun.
Guten Abend. Könnte ich bitte mit Hartmut Hainbach sprechen?
Mit einem schnellen Blick versichert er sich, dass der Nachbarbalkon leer ist. Er will das nicht, aber sein Wille stellt in diesem Moment keine relevante Größe dar. Wie ein inneres Vakuum empfindet er die Einsamkeit; die muss er ausmessen und sie ihrer Formlosigkeit berauben, damit sie hörbar und fühlbar wird und sich unterscheidet von einem Geräusch, das es nicht gibt.
«Es ist dringend«, sagt er halblaut.»Richten Sie ihm aus, der Anruf kommt von ihm selbst. «Seine Stimme klingt dünn gegen das Rauschen in der dunklen Bucht. Nur ein Spaß, sagt er sich und weiß, dass es sinnlos ist, mit sich selbst zu spaßen. Außerdem kennt er den zweifelnden Blick, mit dem Maria und Philippa sein Tun kommentieren würden. Eher peinlich berührt als genervt.
«Okay. Aber keine Provokationen. Fragen Sie ihn nicht nach seiner Frau, seiner Tochter, seinem Job oder sonst irgendwas, das mit seinem gegenwärtigen Leben zu tun hat. «Als sie einmal richtig böse auf ihn war, hat Philippa auf die Frage, was ihren Sinn für Humor von seinem unterscheide, geantwortet: dass ich einen habe.
«Verstanden. Und kann es sein, dass die Verbindung nicht besonders gut ist? Ich höre ein leises Sirren.«
«Sehr lustig. Wir stellen jetzt durch. Wenn Sie ein gewisses Buch erwähnen, wird die Verbindung unterbrochen.«
«Sie meinen Die Semantik des Schweigens. Ich hab viel davon gehört. War der Titel eigentlich ironisch gemeint?«
Hartmut nimmt die Hand vom Ohr und schüttelt sich, als würde ihn frösteln. Nein, ihn fröstelt wirklich. Das Meer rollt unaufhörlich gegen den leeren Strand, und über den Widerschein des Feuers in der anderen Bucht ziehen tanzende Schatten, so als bewegten sich Leute dicht vor den Flammen. Im Bad wäscht er sich das Gesicht, dann steht er vor dem Spiegel und erwägt die nächsten Schritte. Zurück in die Bar? Raus ans Wasser? Erst einmal legt er sich aufs Bett und wartet auf das Abklingen des Schwindelgefühls. Hört den Ton in seinem Ohr und Stimmen im Treppenhaus des Hotels. Ohne es zu wollen, muss er an ein anderes Geräusch denken, das er gestern Abend in Bernhards Haus gehört hat. Süß und nah und nicht für ihn bestimmt. Schon beim Essen schienen die beiden gerne allein sein zu wollen, auch wenn ihr Verhalten den Wunsch eher verbarg als offenbarte. Géraldine war wie Maria in ihren besten Momenten, mit dieser sanften Zuneigung im Blick, die niemanden etwas angeht außer den, dem sie gilt. So kam es, dass er schon um kurz nach elf erklärte, er sei müde und ziehe sich nach oben zurück.
In Wirklichkeit wollte er nicht schlafen, sondern warten.
Das Zimmer hatte sich mit Wärme aufgeladen und roch nach Garten und altem Holz. Draußen erklang das geschäftige Klappern von Tellern und Besteck. Leise, hin und her wandernde Stimmen. Inzwischen erinnerte er sich deutlich an die telefonzellengroße Box, die Sandrine und ihm an einem Bahnhof ins Auge gefallen war und aus Badlands hätte stammen können. In solch einem Kasten hatte Martin Sheen sein akustisches Testament aufgenommen, bevor er mit der blutjungen Sissy Spacek durchbrannte. Ihren Vater hatte er erschossen und das Haus niedergebrannt, und man konnte sich nur wundern, dass seine Freundin trotzdem mit ihm ging. Nach Liebe sah es nicht aus, eher nach einer Skrupellosigkeit, die schierer Langeweile entsprang. ›Record your voice, it’s fun‹ stand an der Tür; ob im Film oder in Wirklichkeit, wusste Hartmut nicht mehr. Es muss einer der ersten Filme gewesen sein, die sie im Varsity Theater zusammen gesehen haben. Mit der Schallplatte in der Hand saß er auf dem Bett und horchte.
Nach zehn Minuten huschten Schritte die Treppe hinauf. Im Flur wurde geflüstert, noch zwei Mal ging die Badezimmertür auf und zu, dann war alles still. Trotzdem wartete er weitere zehn Minuten, bevor er das Zimmer verließ und auf Zehenspitzen nach unten schlich. Das leise, von Géraldines eigenem Atem verschluckte Stöhnen drang kurz an sein Ohr und blieb hinter ihm zurück.
Essensgeruch stand noch im Raum, der ohne Licht größer wirkte. Hartmut versuchte, ruhig zu atmen, während er auf dem Tisch nach einer Kerze tastete und sie anzündete. Der Plattenspieler war ihm schon gestern aufgefallen, ein altes Grundig-Modell mit wenigen Knöpfen. Vor wie vielen Jahren hatte er zuletzt eine Vinyl-Scheibe in den Fingern gehalten? Das ölig glänzende Schwarz mit den feinen Rillen. Er wusste nicht, was ihn erwartete. Mit einem Geräusch, als risse ein dünner Faden, sprang das Gerät an, schlug ein roter Zeiger einmal aus und neigte sich wieder nach links. Hartmuts Finger zitterten. Die Platte drehte sich, und der Tonarm fand seinen Einsatz. Es dauerte eine Weile, bevor zwei fremde, vertraute Stimmen zu sprechen begannen. Wie hinter einer Wand aus knisterndem Feuer.
— So hello then, everybody.
— I think you have to move away from the microphone.
— Away from…
— No, this here. It says eighteen inches. Like that.
— Some minor problems with the equipment. And back we are. Hello! Don’t you wanna say hello to our friends out there, Hartmut?
— I guess I’ll let you do the talking. Like usually.
— Be my guest. So, folks, we are about fifty miles down the road from Hannibal, Missouri, where once again we were accused of Communist… uhm, well just Communism, you know. They do that a lot down here.
— I should have punched his face. This asshole!
— Some strong language from my friend. He’s a gentle soul, though, don’t judge him from this one comment alone. Actually, it was nothing really, just the usual Southern gentleman who’s upset about Nixon. They keep thinking it was my hair that brought him down. Kind of far-fetched, I must say.
— See the light? Fifty seconds left.
— And doesn’t time just fly, folks? I’m afraid we have yet to say something substantial. Over to you, Schopenhauer.
— I think this cop is staring at us.
— Looks more like a train conductor to me. Anyways, what do you think about the universe, Artmüt? A philosopher by both training and vocation, my friend here…
— Thirty seconds.
— But it’s not like you give him a nickel and out comes some unheard-of wisdom. He is more the reserved type, you know. Reading a lot. Lots of notes, too. Hey, let’s hear your latest discovery.
— No, come on!
— Just say it, man. We’re trying to turn your day around. Will you help?
— Check out Faulkner, everybody. Probably the best I’ve ever read.
— And there it is, the cherished piece of advice our fans have been waiting for. Probably. I hear cheering in the background. Eager young minds finally know what to do. (Ein Piepen ertönt.) Oh no, that was too fast. Can’t we just put another coin in? Like, for a B-side.
— I have my doubts that there will really be a record coming out of this box.
— You shouldn’t say ›have‹, you know, since it’s more like you are being owned by them.
— Don’t forget your wallet.
Es knackte. Die Nadel hob sich von der Platte und ließ eine Stille zurück, die ihm dichter und schwerer vorkam als zuvor. Als gäbe es Minusgrade der Tonlosigkeit. Hartmut saß vor dem Sofa auf dem Boden und war sicher, dass Bernhard und Géraldine alles mitgehört hatten vom Schlafzimmer aus. Ihm waren die Stimmen durch Mark und Bein gegangen. Genau so hatten sie damals im Auto gesessen: Sandrine vorwärtsgewandt, schwungvoll und optimistisch, er grübelnd, missmutig und kleinlich. Manchmal hatte sie sich anstecken lassen von seinen dunklen Launen, ohne sie ihm übel zu nehmen. Das verkniffene Gesicht tauchte wieder vor ihm auf, das ihn begleitete, seit sein Blick auf das Foto in Sandrines Wohnung gefallen war. Die Miene eines Jünglings, den er nicht sympathisch finden konnte und der ihn trotzdem anrührte. Ein kühler Lufthauch zog durch die gekippte Terrassentür, und Hartmut spürte seine ausgetrocknete Kehle. Als er aufstand, knarrten die Holzdielen unter seinen nackten Füßen.