«Okay.«
«Meulenbeld mit eu«, fügt sie hinzu, weil sie es Mölenbeld ausgesprochen hat. Im selben Moment, in dem Hartmut den Motor anlässt, erklingt in ihrer Tasche die Melodie von Ain’t no sunshine when she’s gone. Seufzend beugt sie sich nach vorne und zieht ihr Handy hervor.
«Sind Sie sicher, dass Sie das wollen?«, fragt er.
«Bin ich nicht. «Sie stellt den Ton aus.»Und die Melodie hab ich auch nicht ausgesucht.«
«Bis zum Ortsausgang können Sie es sich noch anders überlegen, dann kehr ich um und bringe Sie zurück. Danach nicht mehr.«
«Hab ich schon danke gesagt? Nein. Danke.«
Hartmut rollt vom Parkplatz und lenkt den Wagen zurück zur Hauptstraße. Vor einem Campingplatz wird frisches Obst verkauft, ansonsten hat das Leben auf den Straßen noch nicht begonnen. Kinder bolzen auf einem Platz mit zu hohem Rasen. Am Ortsausgang biegt Hartmut links ab, ostwärts und zurück Richtung Llanes.
«Ich nehme an, Sie haben es nicht eilig«, sagt er und bekommt ein gleichgültiges Nicken zur Antwort. Spät am gestrigen Abend, bevor er aufgebrochen ist in die Bucht, hat er noch einmal die Karte betrachtet und Marias und seine damalige Route rekonstruiert. Quer durch die Picos de Europa sind sie gefahren, und auf der anderen Seite der Berge weiter nach León. Die Namen der kleinen Orte entlang der Strecke lösten ein vages Echo in seiner Erinnerung aus. Die will er heute auffrischen. Den dafür notwendigen Umweg nimmt er in Kauf.
«Obwohl ich seit vielen Jahren in Bonn lebe«, verkündet er gegen die Stille im Auto,»bin ich erst ein einziges Mal in den Niederlanden gewesen. In Rotterdam vor einigen Jahren. Amsterdam zum Beispiel kenne ich überhaupt nicht. Meine Tochter war dort, letztes oder vorletztes Jahr. Hat ihr gut gefallen.«
«Ich bin erst vor zwei Jahren dahin zurückgezogen«, antwortet sie, bevor ihr Handy das nächste Geräusch von sich gibt, diesmal einen leisen Gong, der Marijkes Blick aufs Display lenkt. Was sie auf Holländisch murmelt, versteht Hartmut nicht.
«Wo haben Sie davor gelebt, wenn ich fragen darf.«
«Eine Weile in Berlin, kurz in Birmingham. Hier und da. Die meiste Zeit war ich mit einer Band unterwegs, ohne festen Wohnsitz.«
«Sie machen Musik?«
«Ich war für die Planung zuständig. Transport, Unterkünfte und Gagen, wenn wir eine bekommen haben.«
«Also die Managerin.«
«So ähnlich. Der Bassist war mein Freund und die Band semiprofessionell. Punk eben.«
«Punk. Okay. «Auf Nachfrage erfährt er, dass sie Mitte der Neunzigerjahre ihr Studium abgebrochen hat, um sich auf Wanderschaft zu begeben. Zwei oder drei Jahre hätte das dauern sollen, dann seien es zehn geworden. Am Rand der Schnellstraße kommen ihnen Pilger entgegen, in kleinen Gruppen, zu zweit oder einzeln. Die Landschaft hat die Seiten gewechselt: links das Meer, rechts streckt sich ein Vordach aus dichten Wolken über die Berge. Ain’t no sunshine when… meldet Marijkes Handy, bevor sie den Anruf wegdrückt und das Gesicht in Hartmuts Richtung wendet, ohne den Kopf von der Sitzlehne zu lösen. Er riecht einen Hauch von Zahnpasta.
«Und Sie? Sie mögen Musik, hab ich gestern am Strand gedacht.«
«Ich mag Jazz und lebe vergleichsweise beständig. Als Professor für Philosophie. In Bonn, wie Sie bereits wissen.«
«Cool«, sagt sie nüchtern.»Was für Philosophie?«
«Sprachphilosophie hauptsächlich. Sie waren noch nicht fertig. Warum sind Sie zurückgegangen nach Holland, nach so vielen Jahren?«
«Ich war pleite und hatte keinen Job. Auch keine Lust, nach einem zu suchen. Die Band gab es schon eine Weile nicht mehr. Dann hab ich meinen Bruder besucht zu seinem vierzigsten Geburtstag, und er hatte Platz in der Wohnung. Ich hab mein Leben nie geplant, sondern einfach gemacht, wonach mir der Sinn stand. Das war meine Philosophie.«
«Und auf einmal stand er Ihnen nach Rückkehr.«
«Sie reden nicht gerne über sich, oder?«Sie drückt den Kopf weiter gegen die Lehne mit schräg nach oben gerichtetem Blick, als hätte sie Nasenbluten.»Außerdem sind Sie ein verrückter Tänzer. Das klingt wahrscheinlich negativ auf Deutsch, soll aber ein Kompliment sein. Mögen Sie Punk auch?«
«Ich weiß nicht mal genau, was das ist. Offen gestanden erinnere ich mich auch nicht allzu gut an das Geschehen von gestern Abend. «Im verschwommenen Bild der Nacht sucht er nach seiner Beifahrerin und glaubt, eine abseits im Sand hockende Frauengestalt zu entdecken. Dort, wo die Schatten der Felsen in Dunkelheit übergingen. Sicher ist er nicht.
«Hat man Sie schon vor holländischen Frauen gewarnt?«, fragt sie.»Frauen meiner Generation? Wir kennen keine Scheu, ich meine im Gespräch. Was andere als zu privat oder intim empfinden, um es Unbekannten zu erzählen — wir nicht. Außerdem wissen Sie längst, dass ich vor meinem Freund weglaufe. Beziehungsweise vor meinem Verlobten. Kein Witz. «Mit einer schnellen Bewegung hält sie ihm die Hand mit dem Ring so dicht vors Gesicht, dass Hartmut erschrocken zur Seite ausweicht.»Kaum zurück in Holland, schon in Handschellen.«
Ihr Handy spielt Ain’t no…, und sie drückt energisch die Taste.
«Übrigens kann man die Dinger auch ausschalten«, sagt Hartmut,»jedenfalls konnte man es früher. Mit den neuen Modellen kenne ich mich nicht aus.«
Demonstrativ drückt sie einen Knopf an der Seite des Telefons und steckt es zurück in ihre Tasche. Dann sieht sie auf ihre leeren Handflächen und sagt:»Sofort fühle ich mich komisch. Sind Sie verheiratet?«
«Seit zwanzig Jahren.«
«Haben Sie es je bereut?«
«Nein.«
«Aber Sie reisen alleine.«
«Meine Frau hat in Kopenhagen zu tun. Beruflich. Ich bin auf dem Weg zu meiner Tochter.«
«Okay. Wie wär’s mit Musik? Es gibt einen CD-Player.«
«CDs liegen im Handschuhfach.«
Kurz vor einem kleinen Ort namens Urunquera setzt Hartmut den Blinker und biegt von der Küste ab ins Landesinnere. Sofort wird die Straße schmal und beginnt, bergan zu führen. Eine Gitarre erklingt, dann die rauchige Stimme von Cesária Évora. Eine von Marias Favoritinnen. Hartmut schickt einen anerkennenden Blick zum Beifahrersitz.
«Gute Wahl. Wenn’s Ihnen recht ist, fahren wir ein Stück durch die Berge. Es ist kein großer Umweg.«
Wieder nickt Marijke gleichgültig und ohne seinen Blick zu erwidern. Um ihren schlanken Hals liegt ein Kettchen mit mehreren Anhängern, die eher nach Talismanen als nach Schmuck aussehen.
«Was macht Ihr Verlobter beruflich?«, fragt er.
«Wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, sagen Sie Freund. Er betreibt eine Agentur für alles, was nur wenige Leute interessiert. Konzerte, Kleinkunst, Theater. Hauptsache, es ist randständig. Sie ahnen, wie wir uns kennengelernt haben. Randständiger als unsere Band war, ging es kaum. Danach kam eigentlich nur noch der Abgrund.«
Die Bemerkung, dass er ihren Freund gestern in der Bar für einen Büromenschen gehalten hat, verkneift er sich. Als hätten sie durch eine unsichtbare Tür ein anderes Zimmer der Welt betreten, verändert die Landschaft ihr Aussehen. Niedrige Steinwälle leiten die Straße durch Wiesen und Weiden, über denen schwarze Greifvögel kreisen. Wohin auch immer sich die Wolken verzogen haben, über ihnen glänzt der Himmel in ungetrübtem Blau. Kurve reiht sich an Kurve. Die Hauswände sind in kräftigen Farben bemalt, viele tragen das asturische Wappen auf der Frontseite.
«Wenn Sie sich selbst in drei Worten beschreiben sollten«, sagt Marijke,»Adjektive oder Substantive, ganz egal, aber nur drei. Welche wären es?«
«Das ist nicht leicht. «An manchen Stellen wird die Straße so schmal, dass Hartmut den Fuß vom Gas nimmt, wenn ihnen ein Auto entgegenkommt.»Also, erstens liberal hinsichtlich meiner politischen Einstellung. Was mir in meiner Jugend viel Ärger eingetragen hat. Scheiß Liberaler dürfte das Schimpfwort sein, das ich als Student am häufigsten gehört habe. Es bedeutete, dass ich in Debatten über die Frage ›Reform oder Revolution‹ für Erstere eingetreten bin. Für Sie muss das komisch klingen, wie ›Kugel oder Scheibe‹. Schlimmer als ›liberal‹ war damals nur ›reaktionär‹.«