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«Und die anderen beiden?«

«Auch wenn es prätentiös klingt, ich bin nun mal Philosoph. Obwohl ich mir auch hätte vorstellen können, Literatur zu studieren. Oder Psychologie. Als Drittes vielleicht was Persönliches. Nachdenklich würde mir gefallen. Meine Frau fände negativ treffender.«

«Liberaler nachdenklicher Philosoph. «Sie schüttelt den Kopf.»Dass sie nachdenken, kann man von Philosophen erwarten. Und ›liberal‹ ist mir zu schwammig. Was ist mit der Homo-Ehe?«

«Sie haben kein Auge für Landschaften, oder? Sehen Sie das?«Nach der nächsten Biegung öffnet sich der Blick, und sie schauen auf hellgrünes Land und ein beinahe unwirklich blaues Meer. Er jedenfalls tut das. Marijkes Augen ruhen auf ihm.

«Sie sind dagegen. Da vorne können Sie mich rauslassen.«

«Bin ich nicht. Es ist zwar keine Herzensangelegenheit von mir, betrifft aber liberale Grundsätze. Gleiches Recht für alle.«

«Haschisch?«

«Hab ich nur ein Mal probiert. Meine Frau raucht es gelegentlich, und es scheint ihr nicht zu schaden. Würde meine Tochter es nehmen, wäre ich dagegen.«

«Atomkraft?«

«Ist keine Frage von Liberalität, sondern ein Kalkül von Nutzen und Risiken. Ich glaube, dass die Letzteren überwiegen.«

«Gut. Wir können jetzt Du sagen. «Seine Beifahrerin wirkt zufrieden und kippt die Lehne ihres Sitzes ein wenig nach hinten.»Meine drei Wörter sind: unabhängig, spontan und mitfühlend. Letzteres schließt Tiere und pflanzliche Lebewesen mit ein.«

«Nicht aber deinen Freund, der sich in diesem Moment ernsthaft zu sorgen beginnt, weil er dich nicht erreichen kann.«

«Du fährst zu schnell, willst du uns umbringen«, sagt sie, weil er auf einem geraden Straßenabschnitt in den vierten Gang schaltet.

Sie folgen dem Verlauf des Río Deva, fahren durch schiefergraue Schluchten und winzige, im Felsenschatten kauernde Dörfer. Einmal zählt Hartmut zwischen zwei Ortsschildern genau drei Häuser. Cesária Évora singt von enttäuschter Liebe, Marijke erzählt von Punk-Musik und warum Lipstick Traces damals ein wichtiges Buch für sie war: weil sie geahnt hatte, dass es um mehr ging als um Krach und Verweigerung. Über einen Graben von zwanzig Jahren hinweg versucht Hartmut, die Landschaft wiederzuerkennen. Sind sie hier entlanggefahren? Gab es die Straße überhaupt schon? Er schaut aus dem Fenster und versucht, sich zurückzuversetzen in die damalige Stille im Auto, aber Marijke redet sich gerade in Rage über Pim Fortuyn, gegen den ihre Band einen Song geschrieben hat, der ein paar Mal im Radio zu hören war.

«Linke Kirche, wenn ich das höre!«Als Studentin habe sie seine Kolumnen nicht ungern gelesen oder sich jedenfalls herausgefordert gefühlt, aber dann sei alles außer Kontrolle geraten und nach dem Attentat immer schlimmer geworden. Das alte offene Holland, auf das sie stolz gewesen sei, gebe es nur noch in den Köpfen ihrer deutschen Freunde. In Berlin habe man sie komisch angesehen, wenn sie sagte, dass sie Deutschland für das gesündere Land halte. Bekümmert hält sie inne, zuckt mit den Schultern und sieht sich um.

«Bist du sicher, dass das der Weg nach Santiago ist?«

«Ein Weg. Wenn du willst, stell ich das Navigationsgerät an.«

«Nein«, sagt sie.»Es ist gut, unterwegs zu sein, ohne zu wissen, wohin.«

Gegen Mittag beginnt Hartmut zu bereuen, dass er das Frühstück hat ausfallen lassen. Außerdem würde er gerne die Landschaft betrachten, ohne auf den Verkehr achten zu müssen. Immer wieder rasen Motorräder mit halsbrecherischer Geschwindigkeit an ihnen vorbei. Am Straßenrand abgestellte Autos machen die Strecke gefährlich schmal. Bei der nächsten Abzweigung folgt er dem Hinweis auf eine Iglesia de Santa Maria Lebeña, zwei Minuten später hält er vor einem sandfarbenen Kirchengebäude. Von Bäumen halb verdeckt, liegt es unterhalb eines Dorfes, das wie Rapa aussähe, wäre es von weniger schroffen und steilen Berghängen umgeben. Nur zwei weitere Fahrzeuge stehen auf dem Parkplatz. Beim Aussteigen empfängt sie mittägliche Stille.

«Es stimmt, ich hab keinen Sinn für landschaftliche Schönheit. Schon gar nicht in den Bergen. «Marijke lässt den Blick über die Felshänge wandern. Der Himmel ist von einer strahlenden Tiefe, vor der die Berge wie ausgeschnitten wirken. Scharfkantig und nah.»Ich denke immer: Wie kann man hier leben? Landschaftlich bin ich total patriotisch.«

Neben dem Parkplatz steht eine zum Kiosk umfunktionierte Holzhütte, dessen Betreiber gebannt auf einen Fernseher starrt. Ein handgeschriebenes Schild verspricht Bocadillos. Hartmut bestellt eins mit Schinken, Käse und roter Paprika und setzt sich auf eine zwischen Feigenbäumen stehende Bank. Der Ruf eines Bussards hallt durch die Luft. Oben in den Gassen des Dorfes spielen Kinder. Seine Kopfschmerzen sind verschwunden, das fällt ihm erst jetzt auf.

Mit einem dampfenden Kaffeebecher in der Hand nimmt Marijke neben ihm Platz, rittlings auf derselben Bank. Durch die Blätter fällt geschecktes Sonnenlicht auf ihr Gesicht. Gerne würde er sagen, an wen sie ihn erinnert, aber er will nicht anzüglich klingen. Vermutlich hat sie den Namen Bibi Andersson sowieso nie gehört.

«Was willst du in Santiago machen?«, fragt er stattdessen.

«Nichts Bestimmtes. Ich hab meinem Freund schon häufiger gesagt, irgendwann lauf ich weg, und später komme ich wieder. Der Übergang war zu abrupt für mich. Ich kann nicht plötzlich nur noch sesshaft sein.«

«Das akzeptiert er?«

«Mark ist ein großzügiger und verständnisvoller Mensch. Reifer als ich.«

«Mark. Hast du vor, ihn irgendwann zu heiraten, oder willst du immer wieder weglaufen?«

«Hei-raten«, sagt sie, als könnte man das Wort wie eine Nussschale knacken und den faulen Kern bloßlegen.»Vor ein paar Jahren hab ich mir eine Frage gestellt: Wie viele Männer werden sich noch in mich verlieben? Das war kurz nach der Trennung von dem Bassisten, wann sonst fragt man sich so was. Da wusste ich, dass ich älter werde. Meine Eltern haben nie versucht, mich zurückzuhalten, sondern nur gesagt, denk dran, eines Tages ist die Party vorbei. «Sie nippt an ihrem Kaffee und schaut Hartmut in die Augen. Ungeschützt und nicht so, als würden sie einander erst seit zwei Stunden kennen.»Alle Freunde, denen ich die Geschichte erzähle, stellen mir dieselbe Frage: Liebst du ihn? Du nicht, warum?«

«Es geht mich nichts an. Außerdem wählt man sich erst ein Leben und dann den Partner. Das Umgekehrte funktioniert nur in Ausnahmefällen. Auch wenn die meisten Leute es nicht einsehen wollen — Liebe konstituiert keine Ausnahme.«

«Gesprochen wie ein Philosoph«, sagt sie ohne Spott.»Hast du dich daran gehalten? An die Reihenfolge.«

«Ich ja, meine Frau nicht.«

«Deshalb lebt sie jetzt in Kopenhagen.«

«In Berlin. In Kopenhagen gibt ihre Theatergruppe ein Gastspiel. Wenn du selbst in Berlin gewohnt hast, sagt dir der Name Falk Merlinger vielleicht was?«

«Natürlich.«

«Für den arbeitet sie. Früher war sie sogar mal mit ihm zusammen.«

Marijke legt einen Arm auf den Tisch und stützt das Gesicht in die rechte Hand. Möglicherweise ist es eine Eigenart von ihr, Interesse mit Gesten zu zeigen, die auf den Betrachter gelangweilt wirken. Seitlich auf der Stirn sitzt eine kleine sichelförmige Narbe. Als Kind war sie bestimmt ein Wildfang.

«Ich mag seine Stücke nicht«, sagt sie,»aber in Interviews klingt er interessant. Alternde Rebellen haben was. Es ist ein Traum von mir, mit sechzig Jahren drauf zu sein wie Patti Smith. Notfalls alleine, das wäre es wert.«

Zum ersten Mal fragt er sich, wie es wäre, mit ihr zu schlafen. Es würde passen in die Poesie des Augenblicks, sich am helllichten Tag in einem Hotelzimmer zu lieben und danach das Kennenlernen fortzusetzen. Sonnenstrahlen fielen durch fadenscheinige Gardinen, Marijke könnte die Geschichte zu ihrer Narbe erzählen und er, warum es nicht rebellisch ist, ein Publikum zu bedienen, dessen selbstgerechte Weltsicht der eigenen entspricht. Eigentlich stellt er sich gar nicht den Sex vor, sondern wie es wäre, mit ihr geschlafen zu haben.