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«Ich finde«, sagt er, weil sie ihn anschaut, als würden seine Gedanken ihr nicht verborgen bleiben,»du solltest deinen Freund wenigstens anrufen und ihm sagen, wo du bist. Das ist das Mindeste.«

Reflexartig öffnet sie den Mund, um gegen seine Einmischung zu protestieren. Dann klappt sie ihn wieder zu, nimmt das Handy aus der Tasche und geht Richtung Parkplatz. Hartmut sieht ihr nach und beschließt, dass es ausreicht, sich dem Reiz auszusetzen. Besser, als einen Schritt zu tun und zurückgewiesen zu werden. Bevor sie zu sprechen beginnt, dreht sie sich noch einmal nach ihm um, und er winkt ihr unbeholfen zu. Vermutlich wird sie ihrem Freund sagen, sie sei zu einem alten Mann ins Auto gestiegen, der ihr bisher nicht die Hand aufs Knie gelegt habe, und dass sie ihm eigenhändig die Nase brechen werde, sollte er’s doch wagen. Neben einem Baum geht sie in die Hocke, lehnt mit dem Rücken gegen den Stamm und spricht ohne sichtbare Erregung.

Nachdem er sein Sandwich aufgegessen hat, geht er hinunter zur Kirche. Ein schlichtes Gotteshaus mit romanischen Bögen, umgeben von Steinmauern und wild wuchernden Brombeerhecken. Der rechteckige Turm steht etwas abseits, einige Stufen führen hinab zu einem winzigen Friedhof. Schlichte Gräber und frische Blumen. Die hier unter Kreuzen aus Stein oder Eisen liegen, haben lange Namen getragen und lange gelebt; der zuletzt Verstorbene wurde hundertdrei Jahre alt, und sein Name nimmt zwei Zeilen ein. Auf den Steinen stehen keine Grabsprüche, nur die Lebensdaten und wer der Toten gedenkt, meistens ›hijos y nietos‹, Kinder und Enkel.

Hartmut lehnt sich gegen die Steinmauer und schließt die Augen. Spürt um sich herum die flatternden, summenden und raschelnden Bewegungen in einem von der Sonne erwärmten Raum. Als er die Augen wieder öffnet, sieht er Maria um die Ecke kommen. Im langen Rock schlendert sie an Kirche und Turm vorüber, hat die Arme mußevoll verschränkt und erkundet mit den Augen das leuchtende Gemäuer. Hinterher streitet sie gerne ab, etwas Schönes gesehen zu haben, aber wenn sie sich unbeobachtet glaubt, liegt ein besonderer Ausdruck auf ihren Zügen. Unbeteiligtes Wohlwollen, falls es das gibt. Es muss hier gewesen sein, denkt er, genau hier. Langsam durchquert sie den Vorbau und bleibt vor der hölzernen Tür stehen, auf der die Besichtigungszeiten angeschlagen sind. Sie liest, und er erkennt das unmerkliche Nicken, mit dem sie geschriebenes Spanisch versteht. Die Straße und die Kirche waren in schlechterem Zustand damals, es gab weder einen asphaltierten Parkplatz noch den Kiosk, nur Stille und nach allen Seiten aufragende Felsen. Beim Weitergehen schaut Maria auf ihre Füße, weil sie weiß, dass sein Blick ihr folgt. Jetzt kann sie nur noch so tun, als wäre sie alleine und für sich. Hinter dem verrosteten Eisentor zu seiner Linken führt ein Weg hinunter zum Fluss, wo sie damals im Gras gelegen und dem Gespräch der Pappeln zugehört haben. Er lächelt, und sie lächelt zurück.

Fahren wir weiter? fragt sie.

Kleine grüne Eidechsen flitzen über die Mauer und verschwinden in den Ritzen. Am Fluss wird sie ihn küssen und er sich fragen, was sie in ihm sieht. Nur zu gut erinnert er sich an die Überforderung durch die eigenen Gefühle. Zu stark, um die richtigen Gesten und Worte dafür zu finden. Im nächsten Moment ist die Vision vorbei, weil eine vierköpfige Familie sich der Kirche nähert. Die lauten Stimmen gemeinsamer Wohlgelauntheit. Fotos werden geschossen, der Vater bringt mit seinen Kommentaren Mutter und zwei Töchter zum Lachen, und Hartmut bleibt nichts anderes übrig, als Hola zu sagen und den Ort zu verlassen.

Marijke wartet neben dem Auto und bietet ihm eine frische Feige an.

«Gerade gepflückt. Probier.«

Hartmut piept die Türen auf, dann stehen sie neben dem Wagen, lassen die Hitze entweichen und essen die süßen Früchte. In Rapa wachsen sie entlang der Straße rauf zum Friedhof. Manchmal bringt Maria ihm welche mit, wenn sie ihre Mutter begleiten musste.

«Und?«, fragt er schließlich, um sich von der Enge in seiner Brust zu befreien.

«Der eine nennt es Freiraum, und dem anderen tut es weh«, sagt sie und schiebt nachdenklich die Unterlippe vor.»Der eine nennt es Liebe, und der andere fühlt sich seines Freiraums beraubt. Richtig?«

«Offenbar hast du schon eine sehr erfahrene geistige Stufe. «Ohne sich an ihrem Stirnrunzeln zu stören, steigt er ein.

Marijke wirft die Reste ihrer Frucht in die Wiese und tut es ihm nach.

«Wie lange noch bis Santiago?«

«Schwer zu sagen. «Hartmut lässt den Motor an und hört im Losrollen einen kurzen trockenen Knall. Zuerst glaubt er, über eine Glasflasche gefahren zu sein, aber das Aufblinken einer roten Warnleuchte lokalisiert das Problem im Motorraum.

«Stimmt was nicht?«Marijke leckt sich die Finger und wendet den Kopf.

«Hast du das auch gehört?«

«Plopp«, macht sie.»Was Ernstes?«

«Jedenfalls blinkt eine Lampe. Wenn wir Pech haben, ist der Keilriemen gerissen.«

«Ich weiß nicht, was das ist. Aber das Auto fährt.«

«Es fährt, aber die Batterie lädt sich nicht auf. Irgendwann springt es nicht mehr an. Ich hab befürchtet, dass so was passiert.«

Sie erreichen die Stelle, an der sie zuvor von der Hauptstraße abgebogen sind. Potes heißt der nächste ausgeschilderte Ort. Bis auf ein leichtes Schleifgeräusch vorne rechts verhält sich das Auto normal. Nach wenigen Kilometern wird das Tal breiter, und die grünen Hänge fallen in sanftem Schwung zum Fluss hin ab. Ein sonniges Bergpanorama tut sich auf. Mehrere Hotels säumen die Straße, sie scheinen in einen Ferienort gekommen zu sein, aber zu dieser Tageszeit dauert es eine Weile, bis sie den ersten Fußgänger erblicken. Ein alter Mann mit Baskenmütze und Gehstock, der überrascht stehen bleibt, als Hartmut neben ihm an den Rand fährt. Marijke steckt den Kopf aus dem Fenster, grüßt höflich und erkundigt sich nach einer Werkstatt. Ihr Spanisch ist ziemlich flüssig. Der Mann grüßt zurück und wirft einen prüfenden Blick ins Wageninnere, bevor er schwungvoll die Straße hinabdeutet. Seine Antwort fällt lang aus und erfordert viele erklärende Gesten. Marijke nickt und bedankt sich mehrmals, nachdem er geendet hat.

«Wir haben Glück«, sagt sie und dirigiert Hartmut an einer Tankstelle vorbei, hinein in eine scharf von der Hauptstraße abzweigende Gasse. Die Werkstatt, die sie nach wenigen Minuten erreichen, ist auf den ersten Blick als solche zu erkennen. Ein längliches Schild mit zwei zum Piktogramm komprimierten Autos ziert die Stirnseite des Hauses. Es ist das letzte in der Straße, direkt dahinter verläuft der Fluss, an dessen gegenüberliegendem Ufer es steil bergauf geht.

Ein Schäferhund kommt bellend aus dem offenen Garagentor geschossen, als Hartmut den Wagen abstellt. Zum Glück ist er angekettet. Ihm folgt ein muskulöser junger Mann im blauen Overall, der beruhigend die Flanken des Tieres tätschelt, bevor er seinen Blick auf die beiden Ankömmlinge richtet.

«Hola. Buenos días«, sagt Marijke im Aussteigen.

Froh über seine sprachkundige Begleiterin hält Hartmut sich abseits, lauscht ihrer Imitation des Knalls und nickt bestätigend, wenn die dunklen Augen des Mechanikers sich auf ihn richten. Ein vollbärtiger Typ mit einem Gesichtsausdruck, als wäre er gerade aus dem Mittagsschlaf erwacht. In einiger Entfernung zeichnet sich das Relief der Stadt ab. Rote Dächer gleißen unter der hochstehenden Sonne. Dicke weiße Wolken schweben wie Zeppeline über dem Ort. Marijke befragt ihr Telefon und liest vom Display ein spanisches Wort ab, das vermutlich Keilriemen bedeutet. Der Mechaniker antwortet einsilbig.