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«Die Geschichte hab ich noch nie jemandem erzählt«, sagt er.»Sie hat gefleht und geweint. Ich hab gesagt, dass ich ihr Unterhalt zahle, aber niemals mit ihr und dem Kind zusammenleben werde. Dass eine Abtreibung für sie nicht in Frage kam, wusste ich. Es war dieselbe Zeit, in der Maria und ich uns allmählich nähergekommen sind. Irgendwann musste ich Tereza sagen, dass es eine andere Frau in meinem Leben gibt. Das war der Punkt, an dem sie zusammengebrochen ist. Vorher hat sie sich geweigert zu akzeptieren, was ich ihr sagte, danach war sie wie gelähmt. Hat nur noch apathisch vor sich hin genickt. Ein paar Wochen lang haben wir nichts voneinander gehört, dann rief sie an. Wollte mich sehen, aber nicht bei mir zu Hause. Also haben wir uns in einem Café getroffen. Dort meinte sie, sie habe einen Arzttermin und ob ich sie begleiten könne. Ich dachte, es geht um eine Untersuchung. Erst in der Klinik hab ich erfahren, dass es sich um eine Abtreibung handelt. Die notwendigen Beratungen hatte sie schon absolviert und alles in die Wege geleitet. Warum sie mich dabeihaben wollte, weiß ich bis heute nicht. Wahrscheinlich, um mir vor Augen zu führen, was ich ihr antue. Oder sie hat gehofft, ich würde im letzten Moment einknicken. Vielleicht war es naheliegend, den Vater mitzunehmen. Keine Ahnung. Jedenfalls hab ich im Wartezimmer gesessen, gefühlte drei Tage lang. Was ich sonst gefühlt habe, weiß ich nicht mehr. «Das Einzige, woran er sich mit einiger Klarheit erinnert, sind die weißen Wände und das gedimmte Licht im Aufwachraum. Die stumme Anklage in ihrem Blick. Als eine Schwester hereinkam und mit ihr sprach, blieben Terezas Augen auf sein Gesicht geheftet, als wollte sie dafür sorgen, dass er diesen Moment sein Leben lang mit sich herumtragen würde.

«Verstehe«, sagt Marijke.

«Weder meine Frau weiß davon noch meine Schwester. Dir wäre es wahrscheinlich auch lieber, es nicht zu wissen. Bald danach bin ich aus Berlin weggezogen, und es gab keinen Kontakt mehr. Wo sie heute lebt, weiß ich nicht. Ich kann nicht ausschließen, dass ich ihr Leben zerstört habe. Oder sie hat die große Liebe getroffen und fünf Kinder bekommen, ich werde es nie erfahren.«

Um sie herum singen manche Leute das Lied aus den Lautsprechern mit, andere begleiten den Gitarristen. Das Nachbarhaus schaut aus zerbrochenen Fensterscheiben zu. ›Se vende‹ steht auf einem Schild im ersten Stock. Marijke sieht auf das Glas in ihren Händen und schweigt.

«Einerseits schäme ich mich«, sagt er,»und andererseits kann ich es nicht bereuen. Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich das vermeintlich Richtige getan hätte? Ich weiß es nicht und will es nicht wissen. Auf jeden Fall wäre ich nicht mit Maria verheiratet, und es gäbe unsere Tochter nicht. Für mich reicht das. Das andere kommt manchmal hoch, wenn ich nicht einschlafen kann oder niemanden zum Reden habe. Ehrlich gesagt, nicht mehr allzu oft. «Das Taschentuch, das Marijke ihm reicht, will er zuerst ablehnen und nimmt es dann doch. Überrascht beobachtet er, dass sie sich ebenfalls schnäuzen muss.»Jetzt denkst du, dass ich ein gewissenloser Schuft bin. Ganz sicher hab ich mich damals so verhalten. Alles okay?«

«Geht schon. «Sie knüllt ihr Taschentuch zusammen und steckt es in die Tasche. Ein paar Mal nickt sie stumm vor sich hin.»Es ist merkwürdig, wie manche Konstellationen im Leben einander ähneln. Würde man deine und meine Geschichte übereinanderlegen, ich meine nicht die Geschichten, nur die Figuren — dann würdest du Bass spielen und ich wäre Tereza. Wenn auch ohne Schwangerschaft.«

Er braucht einen Moment, um zu verstehen, was sie meint. Den Bassisten hat sie am Nachmittag lediglich am Rande erwähnt, als einen früheren Freund unter mehreren. Beim Abendessen kam er noch einmal kurz vor. Jetzt schaut sie ihn an und lächelt tapfer.

«Das hab ich nicht gewusst«, sagt er betreten.

«Seinetwegen bin ich so lange unterwegs gewesen. Im ersten Jahr konnte ich die Band nur in den Semesterferien begleiten, das war wie Urlaub. Dann hab ich beschlossen, für ein ganzes Jahr zu reisen, und danach bin ich nicht mehr an die Uni zurück. Ich kann gut verstehen, wie man als Paar jahrelang dahinlebt, ohne zu besprechen, wohin es führen soll — bis man eines Tages feststellt, dass es nirgendwohin führt. Es gab Ärger in der Band, und er wollte aussteigen. Okay, hab ich gesagt, steigen wir aus und machen was anderes. Aber das war nicht sein Plan. Inzwischen hat er in Amsterdam einen Plattenladen mit dazugehörigem Café. Außerdem Frau und zwei Kinder. Letztes Jahr hab ich ihn getroffen. Er sah glücklicher aus als je zuvor. «Sie legt den Kopf in den Nacken und leert ihr Glas. Zieht noch einmal die Nase hoch und schüttelt den Kopf.»Ich bin müde. Vielleicht sollten wir zurück zum Hotel gehen.«

Entschieden wehrt er ihr Ansinnen ab, für sich selbst zu bezahlen, und geht nach drinnen. Der Wirt, nicht viel älter und genauso langhaarig wie seine Kollegin, nimmt dankend das Geld entgegen und wünscht eine gute Nacht.

Mondlicht fällt auf die gepflasterten Gassen. Als Hartmut nach oben schaut, sieht er am Himmel ein leuchtendes weißes Kreuz stehen. Einen Moment lang glaubt er, betrunkener zu sein, als er gedacht hat, dann kommt er darauf, dass es sich um das Gipfelkreuz handeln muss, das er am Nachmittag vom Fluss aus gesehen hat. Er würde gerne etwas Tröstendes sagen, aber ihm fällt nichts ein. Sie ist jünger als er, aber alt genug, um zu wissen, dass manche Dinge im Leben nur ein Mal passieren.

Die schmalen Gassen setzen sich fort im engen Treppenhaus ihrer Pension. Der Nachtportier hat seine Begrüßung auf ein kurzes Nicken beschränkt und schickt ihnen einen abschätzigen Blick hinterher. Im ersten Stock gibt es vier Türen an jeder Seite des Ganges. Wie Zellentüren. Die letzten beiden gehören ihnen. Einen Moment lang stehen sie unschlüssig davor, halten die Schlüssel in der Hand und betrachten die ockergelbe Tapete.

«Soll ich dich morgen früh wecken?«, fragt er.

«Ich wache von alleine auf. «Marijke steckt den Schlüssel ins Schloss und dreht sich noch einmal zu ihm um. Er lächelt. Mit einem schnellen Schritt ist sie da, legt die Arme um seinen Hals und küsst ihn auf die Wange. Dann löst sie sich und huscht ohne ein Wort ins Zimmer.

«Bis morgen«, flüstert er durch die sich schließende Tür.

1991

Am ersten Morgen wacht er auf, sobald es draußen dämmert. Durch die hölzernen Läden vor der Balkontür sickert ein blassblau beginnender Tag herein. Maria liegt wie immer auf der Seite, zugedeckt bis zu den Ohren gegen die nächtliche Kühle, und Philippa hat sich schnarchend auf den Rücken gedreht. Irgendwann wird man ihr die Polypen rausnehmen müssen, sagt der Hausarzt in Bonn. Die Arme hat sie seitlich abgewinkelt, als wollte sie sich im nächsten Moment strecken und mit hellwachen Augen fragen: Was machen wir heute? So vorsichtig wie möglich steigt Hartmut aus dem Bett, zieht die Decke zurecht und schleicht nach unten. Halb sechs zeigt die Küchenuhr. Hinter großen Fenstern wölbt sich der Himmel wolkenlos über die Landschaft, bedeckt vom letzten Nachtschatten, aus dem durchsichtig und fahl der Mond herabschaut. Als würde die Stille im Haus sich draußen fortsetzen.

Gestern Nachmittag sind sie angekommen. Müde nach der fünfstündigen Fahrt von Lissabon herauf, weil Lurdes sie gedrängt hatte, den Umweg über Mealhada zu machen und ein gegrilltes Spanferkel für den Abend zu kaufen. Das tut sie bei jedem Besuch und vergisst nie zu versprechen, es sei das letzte Mal. In einem gemieteten Renault sind sie über hitzeflimmernde Straßen gefahren, mit einem toten Schwein auf der Hutablage, dessen Fett allmählich durchs Pergament tropfte. Je näher sie Rapa kamen, desto größer wurde seine Vorfreude. Für ihn wird die kommende Woche aus reichlichen Mahlzeiten und den trägen Stunden dazwischen bestehen. Seine Schwiegereltern lieben ihn dafür, dass er nie Nein sagt und alles köstlich findet, den grünen Wein, den Queijo da Serra und selbst das weiche Brot, das der fahrende Bäcker aus dem Kofferraum seines staubigen Ford verkauft. Maria dagegen muss den größten Teil des Tages in der Küche verbringen und sich die Klagen ihrer Mutter anhören: wer im Umkreis von zwanzig Kilometern gestorben ist, wann João endlich sein Motorrad verkaufen und heiraten wird, wie der neue Priester heißt, der zwei Mal in der Woche die Messe liest, und dass es besser war, als Rapa noch einen eigenen Priester hatte und sie täglich zur Beichte gehen konnte. Wenn Maria eine Auszeit braucht, leistet sie ihm auf dem Balkon Gesellschaft. Setzt sich mit einem Seufzer auf seinen Schoß und nickt ergeben, wenn er sagt: Nur eine Woche, dann fahren wir ans Meer. Dass ihm die erste Woche beinahe besser gefällt, weiß seine Frau und gönnt ihm die Ruhe. Sie findet sowieso, dass er zu viel arbeitet in Bonn.