Выбрать главу

Mit der dampfenden Tasse in der Hand schleicht er zurück nach oben. Aus Philippas leerem Bett glotzt ihm Ruca, die kulleräugige Schildkröte entgegen. Im aufgeklappten Kinderkoffer liegen Kleidungsstücke, Bilderbücher und eine grüne Metalldose für die schönsten Muscheln. Sobald Hartmut auf den Balkon tritt und an seinem Kaffee nippt, fühlt er sich so wach, als hätte er zwölf Stunden geschlafen. Auf der anderen Dorfseite startet der erste Wagen. Weit reicht der Blick über flache Kuppen und karge Täler, die Farben werden blasser, bis Himmel und Erde in einem neutralen Blauton ineinanderfallen. Das Auto ist längst außer Sicht, als der Motorenlärm schließlich verklingt und Hartmut nichts mehr hört außer den Glocken weidender Schafe. Magie, sagt er in Marias Kopfschütteln hinein, wenn sie wissen will, warum er sich an diesem reizlosen Ort so wohl fühlt.

Gestern nach der Ankunft hat er seinen üblichen Gang ins Café gemacht und den Beginn der Ferien mit einem kühlen Sagres gefeiert. Zwei Ventilatoren drehten sich träge unter der Decke. Wie immer roch es nach Sommer, Tabak und starkem Kaffee. Nach viel Zeit. Nebenan im Laden tippte Philippa auf der alten Registrierkasse herum, und draußen erlosch der Himmel über den schwarz gewordenen Bergen. Binnen Minuten fiel die Anstrengung der Fahrt von ihm ab. Er trug bereits sein Outfit für die nächsten Tage, Sandalen und knielange Hosen, das Hemd halb offen und auf dem Kopf den ausgefransten Strohhut aus Óbidos, den Maria seinen Huckleberry-Finn-Hut nennt. Das Semester war hart, aber nun hat es ihn in die Freiheit entlassen. Zum ersten Mal seit Philippas Geburt wird er in diesem Sommer einen Roman lesen. Das ist sein Projekt.

«Hartmut, wie kann man sich seinen eigenen Eltern gegenüber so fremd fühlen?«

Es ist später Vormittag. Wieder sitzt er auf dem Balkon, hat ein Glas Wasser mit Zitrone neben sich stehen und könnte nicht sagen, was er in der letzten Stunde am meisten genossen hat, die entspannte Lektüre, die Stille über dem Ort oder das Wissen, dass Maria bald seinen Trost brauchen wird. Jetzt steht sie in der Tür und sieht ihn an, als erwarte sie tatsächlich eine Antwort. Trägt ein kurzärmeliges Kleid aus hellem Stoff, das über der Brust spannt.

«So schlimm?«, fragt er. Ob sie den Genuss ermessen kann, den es ihm bereitet, sie anzuschauen?

«Ich meine nicht erst jetzt, sondern immer schon, so weit ich zurückdenken kann. Diese liebenswerten Leute, zu denen ich Vater und Mutter sage.«

«Dein Vater auch?«

«Halb Don Quijote, halb Albert Schweitzer«, seufzt sie,»was ergibt das? Don Camillo? Onkel Wanja? Ich liebe ihn, aber manchmal spreche ich zu ihm wie zu Philippa.«

Er legt das Buch zur Seite und winkt sie zu sich heran. Das Bewusstsein, dass keine Verpflichtung ihn ruft, kommt in Wellen, und jedes Mal würde er am liebsten laut lachen. Die Sonne steht hoch, und Philippa absolviert an der Hand ihres Großvaters die üblichen Besuche bei der Verwandtschaft. Nickend setzt sich Maria auf seinen Schoß, und er fährt mit den Fingerspitzen über ihren Oberschenkel.

«Wieso Don Quijote?«, fragt er.

«Glaubst du vielleicht, dieses Altenheim wird jemals gebaut? Er schreibt Briefe an irgendwelche Leute, die er in Lissabon kennt. Seine politischen Kontakte nennt er sie. In Wirklichkeit sind es frühere Gäste aus dem Restaurant. Jetzt hat er jemanden gefunden, der zwanzig Jahre lang in Frankreich gearbeitet hat, als Koch, und sie setzen gemeinsam Schriftstücke auf und schicken sie an… keine Ahnung wohin. An die EG. Auf Französisch oder was sie dafür halten.«

«Merkst du, dass dein Deutsch perfekt geworden ist? Du machst überhaupt keine Fehler mehr.«

Maria sieht ihn an und legt ihre Hand auf seine. Sie ist anders in Portugal. Sanfter. Anlehnungsbedürftiger. Wahrscheinlich weiß sie nicht, wie gut das tut.

«Du meinst, ich soll dir dankbar sein?«

Lachend nimmt er ihre Hand und küsst sie.

«Ich meine, unterschätz deinen Vater nicht. Er macht nicht viele Worte, aber er weiß, was er tut. Wie alle Pereiras ist er ein ausgesprochener Dickschädel. «Der nach seiner Rückkehr aus der Hauptstadt zum Ortsvorsteher von Rapa gewählt wurde und sich in den Kopf gesetzt hat, sein Heimatdorf gründlich zu modernisieren.

«Meine Mutter sagt, wahrscheinlich muss ihm ein Bypass gelegt werden. Sie zündet so viele Kerzen an, es gibt in der ganzen Serra bald kein Wachs mehr, aber der Arzt glaubt, dass es spätestens nächstes Jahr unumgänglich wird.«

«Was sagt er selbst?«

«Dasselbe wie immer — nichts.«

Am Himmel kreisen die Adler so hoch, dass sie sich aufzulösen scheinen im gleißenden Licht. Wie betäubt liegt das Dorf unter ihnen, niemand arbeitet mehr auf den Feldern, alle Fensterläden sind geschlossen. Manchmal zerreißen das Knattern eines Mopeds oder ein bellender Hund die Stille, ansonsten sind nur Grillen zu hören. Das unaufhörliche Sirren des portugiesischen Sommers. Wieso gehen sie nicht einfach rein und schlafen miteinander?

«Es bricht mir das Herz, wie sie alt werden«, sagt Maria.»Obwohl sie gar nicht alt sind. Aber die Umständlichkeiten, die ständigen Sorgen um nichts, die Anflüge von bocksköpfiger Unvernunft. Meine Mutter will die ganze Verwandtschaft zum Essen einladen, das hat sie heute Morgen beschlossen. Zwanzig Leute. Hast du den Berg Kartoffeln in der Küche gesehen? Mit ihren arthritischen Fingern braucht sie eine halbe Stunde, um eine zu schälen. Wenn ich ihr helfen will, sagt sie: Schau nach deinem Mann, der langweilt sich. Tut er nicht, sage ich. Dann besuch Tante Aurora. Ich meine, die Verwandtschaft kann gerne kommen, aber das Essen wird erst im Oktober fertig. Und so ist es mit allem.«

«Ich liebe dich.«

«Was?«

«Ich hab’s lange nicht gesagt. Du übrigens auch nicht.«

Manchmal machen Liebeserklärungen sie spröde, und in letzter Zeit hat sie ihn ein paar Mal auflaufen lassen, aber in Rapa ist auch das anders. Mit geöffneten Lippen lässt sie sich gegen ihn sinken, und er spürt überrascht, wie ihre Zungenspitze nach seiner tastet und wie heiß ihr Atem ist. Es war ein anstrengendes, nervenaufreibendes Semester, in dem viele Dinge zu kurz gekommen sind. Dann hält Maria sein Gesicht in beiden Händen und schaut ihn an, so nah, dass er blinzeln muss.

«Weiß ich, wer du bist? Weißt du, wer ich bin?«

«Ich hoffe schon. Warum sagst du das jetzt?«

«Und wenn nicht?«

«Maria, dein Vater ist ein Pferd, der wird auch mit Bypass hundert Jahre alt. Lass dich nicht von deiner Mutter anstecken. Sie hat einfach zu viel Zeit für ihre Sorgen.«

«Ich kann nicht atmen hier. «Mit der linken Hand fasst sie an den Ausschnitt ihres Kleides, als wollte sie es sich vom Leib reißen.»Lass uns woanders hinfahren, nur für zwei Tage. Irgendwohin.«