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Sie waren angekommen, als sich in Bonn der Blues breitmachte, die bange Erwartung des baldigen Exodus. ›Bonn muss Hauptstadt bleiben‹, flehten Aufkleber auf Heckklappen und Ladentüren. In Berlin tobte der Bär, und am Rhein sollte bleiben, was längst nicht mehr war. Irgendwie ist es komisch hier, sagte Maria, als in den Räumen im Bonner Talweg noch unausgepackte Kartons standen. Schon bei ihrem Umzug nach Dortmund hatte sie ihm das Versprechen abgenommen, sich auf jede frei werdende Stelle in Berlin zu bewerben, und seitdem waren vier Jahre verstrichen, ohne dass er Gelegenheit gehabt hätte, es zu halten. Also jetzt, sagte er sich. Der Schritt kam zu früh, war forsch und ein wenig undankbar gegenüber der Bonner Uni, aber das Anforderungsprofil entsprach seinen Qualifikationen so genau, dass sogar Ernst Simon anrief und fragte, ob er es nicht versuchen wolle. Außerdem würde er als C4-Professor rund tausend Mark mehr verdienen und dürfte sich Ordinarius nennen. Wie die Uhus. Der letzte Schritt, der noch fehlte.

Dass man ihn nach dem Vorsprechen auf Platz eins der Berufungsliste setzen würde, hatte er in seinen kühnsten Träumen nicht erwartet. Hatte er die eigenen Fähigkeiten zu niedrig eingeschätzt? War er im gewohnten Glauben, er verkürze bloß den Rückstand, an der Konkurrenz vorbeigezogen? Grevenburg und Riemann meinten, woran er arbeite, sei offenbar sozusagen ›in‹ und er daher gut aufgehoben in der neuen Hauptstadt. Das war zu Beginn des Sommersemesters. An schönen Abenden saßen Maria und er auf dem Balkon, erinnerten sich an ihren ersten gemeinsamen Besuch in Ost-Berlin und phantasierten von Zweihundert-Quadratmeter-Wohnungen mit bröckelndem Stuck. Seine Frau meinte das sogar ernst.

Dann geschah — nichts. Der Ruf schien nur eine Frage der Zeit zu sein, aber die zog sich hin. Das Verfahren musste lediglich noch durch die Instanzen gehen, doch deren gab es viele. Von Kollegen an der Spree hörte Hartmut von Verzögerungen. Dann von Komplikationen. Schließlich wurde von verdeckten Widerständen gesprochen. In ihren abendlichen Unterhaltungen fiel das Wort Geduld desto häufiger, je weniger sie davon aufbrachten. Möglicherweise habe es einen Verfahrensfehler gegeben, hieß es aus der Berliner Gerüchteküche. Telefonate endeten in Warteschleifen, die Verantwortung lag mal hier und mal da, schien es aber nirgendwo lange auszuhalten. Mehr als nur ein Streit zu Hause ging auf das Konto des großen Unbekannten, der Sand ins Getriebe seiner Berufung streute. Das Sommersemester neigte sich dem Ende zu. Es war Freitagabend, Maria brachte Philippa ins Bett, und Hartmut saß am Schreibtisch, als das Telefon klingelte.

Dietmar Jacobs.

«Wow«, sagte Hartmut.»Das ist lange her.«

«Alter Junge. «Dietmars Stimme hatte immer noch den eingeübt wirkenden Klang von früher. Als spräche er in ein Mikrofon. Damals an der TU, wenn sie mit den anderen im Café Hardenberg gesessen oder sonntags vor dem Reichstag Volleyball gespielt hatten, war er Hartmut wie ein Ehrgeizling erschienen, der so tat, als stünde er über den Dingen und würde nur zum Spaß mitmachen.

«Von wo rufst du an?«, fragte Hartmut.

«Aus dem Auge des Orkans: Berlin-Wilmersdorf.«

«Richtig, du bist noch in Berlin. «Bei seinem Berufungsvortrag hatte er einem Aushang am Institut entnommen, dass Dietmar Jacobs dort als Privatdozent unterrichtete, aber über den Weg gelaufen waren sie einander nicht.

«Seit es die Mauer nicht mehr gibt, kommt man hier noch schwerer raus.«

«Weil der Gegenverkehr zu stark ist?«

«Du sagst es, mein Freund. Du sagst es.«

Während der nächsten zehn Minuten hörte Hartmut mit einem Ohr die Anita-Geschichte, die Maria ihrer Tochter vorlas, mit dem anderen den kurzen Abriss von Dietmars akademischer Laufbahn. Er habe einen Zeitvertrag und immer ein paar Bewerbungen laufen, sagte er. Nächstes Jahr komme ein viel zu dickes Buch von ihm raus, und irgendwie werde es danach schon weitergehen. Es entstand die Art von Pause im Gespräch, die einen beabsichtigten Themenwechsel anzeigt.

«Ich wollte unbedingt kommen, als du hier vorgesungen hast«, sagte Dietmar,»aber ich musste mein Seminar geben. Sorry.«

«Kein Problem. Ich hätte mich gemeldet, aber ich war nur einen Nachmittag in der Stadt. Hier wächst mir die Arbeit über den Kopf.«

«Du hast ein Kind, hört man.«

«Hab ich. Meine Tochter ist vier geworden. «Die übliche Bemerkung über die immer schneller vergehende Zeit lag ihm auf der Zunge, aber er ließ sie dort liegen. Nebenan wurden Küsse getauscht. Als Hartmut das Klicken des Lichtschalters hörte, wusste er, dass Dietmar mit Neuigkeiten zu seiner Bewerbung anrief. Wahrscheinlich keinen guten.

«Wir kriegen im Herbst ein Kind. Manchmal frage ich mich, ob Berlin der richtige Ort dafür ist.«

«Wilmersdorf«, sagte Hartmut.»Du meinst, dem Kind könnte langweilig werden?«

Dietmar ließ sich Zeit, bevor er mit einem kühlen Lachen antwortete. Maria steckte den Kopf herein und bedeutete ihm, dass er noch mal rübergehen und gute Nacht sagen solle. Mit der freien Hand signalisierte Hartmut ein ›Ich komme sofort‹, aber sie blieb mit verschränkten Armen in der Tür stehen. Hatte das Stichwort ›Wilmersdorf‹ aufgeschnappt und wollte mehr wissen. Ihre Freude über seinen Ruf nach Bonn war beinahe schneller verflogen, als seine hatte ins Bewusstsein sinken können.

«Was verschafft mir eigentlich die Ehre deines Anrufs?«, fragte er.

«Ich dachte, ich setze dich mal ins Bild. Du weißt schon. Es hat mich niemand beauftragt, ich tu’s aus alter Freundschaft.«

«Okay. Danke.«

«Der Widerstand kommt aus dem Dekanat«, sagte Dietmar ohne lange Einleitung.»Kein offenes Nein, natürlich. Eher überflüssige Nachfragen, formale Haarspaltereien und so weiter. Du weißt, auf Platz zwei der Liste steht eine Frau. Der Frauenanteil am Fachbereich ist nicht hoch, man könnte auch sagen skandalös niedrig. Das ist zunächst mal ein Faktum.«

«Wenn auch keins, das ich…«

«Warte, warte. Ute Cramer ist nicht dein Problem. Du hast Fürsprecher am Institut. Dein Vortrag kam hier gut an. Dazu schon mal meinen Glückwunsch. Well done. Aber es sind, wie soll ich sagen — es sind keine bedingungslosen Fürsprecher. Wenn ein Kompromiss ihnen nützt, denken sie pragmatisch. Alle rechnen damit, dass sich hier bald einiges ändern wird. Zusammenlegungen, Einsparungen. In so einer Situation können kleine Guthaben an Wohlwollen nicht schaden. Die Kollegen verhalten sich wie Eichhörnchen im Herbst.«

«Und an einem Kompromiss mit dem Institut arbeitet… was heißt eigentlich ›das Dekanat‹? Der Dekan?«

«Die Dekanin.«

«Verstehe. Die will eine Frau. «Er hätte gerne auf sein Bücherregal geschaut, aber Marias Blick hing an ihm mit einer stummen Frage, die sich wie von selbst in ungute Gewissheit verwandelte. Hatte er nicht längst selbst etwas geahnt? War es ihm nicht merkwürdig vorgekommen, auf einmal auf Platz eins der Bewerbungsliste zu stehen für eine C 4-Professur dort, wo alle hinstrebten? Hartmut Hainbach aus Arnau. Er wollte ihn nicht zulassen, aber der Gedanke war da, ungerufen.

«Vor allem will sie dich nicht«, sagte Dietmar.

«Oh, ist das so? Was hab ich ihr denn getan?«

«Keine Ahnung. Hast du dich nicht informiert über die Verhältnisse hier?«

«Informiert? Die Bewerbung fiel mitten in meinen Start hier in Bonn. Ich hab die Ausschreibung gesehen, hab einen Anruf von Simon bekommen und meine Sachen losgeschickt. Ohne große Hoffnung, ehrlich gesagt. Was für Verhältnisse?«