«Ich glaube, ich würde die Gedichte lieber sehen, bevor ich das beantworte. Geht ihr nachher noch ins Café?«
«Wir?«
«Du und die anderen Männer.«
«Ich weiß nicht, ob ich es damals gesagt habe, aber das Wochenende war eigentlich… nicht langweilig. Ich hab bloß gedacht, dass ich meine Ferien lieber mit euch verbringen würde. Ich hab sowieso zu wenig Zeit für meine Familie. «Jetzt hat er die Hand gefunden. Ihre Finger sind überraschend kalt und ein wenig feucht. Maria ist schon am Nachmittag hergekommen, damit die Mädchen miteinander spielen konnten, während Valentin und er auf den üblichen Wegen gewandert sind. Steil bergauf und dann den Kamm entlang, mit Blick auf das Tal des Rio Mondego, der sich wie ein grünes Band durch die Landschaft zieht. Auf der anderen Seite liegt Guarda, ein weißer Mauerrand von Häusern auf einem fernen Plateau. Sein Begleiter hat ihm die Namen für Brombeeren, Ginster und andere Pflanzen vorgesagt, Hartmut ist ihm gefolgt und hat sich gefragt, wie er Marias ausweichende Reaktion am Vormittag verstehen soll. Will sie wirklich kein zweites Kind? Unter ihnen nestelte sich Rapa in die bereits schattige Schlucht. Wind flanierte über die Hänge. Bei seinem ersten Besuch hatte die neue Dorfhälfte aus einer staubigen Straße mit halbfertigen Rohbauten bestanden. Jetzt sah er dort den üppigen Garten von Arturs Schwester, konnte den kleinen blauen Punkt des Planschbeckens ausmachen und die noch kleineren Punkte, die drum herum sprangen. Außerdem das Vordach, unter dem Maria lag und nicht wusste, ob sie sich von den Gesprächen mit ihrer Mutter erholte oder nur noch unzufriedener wurde. Warum ist das so, hat sie ihn neulich gefragt. Warum behalten Männer ihren Ehrgeiz, während die Frauen zu Hausmütterchen und Leserinnen von Illustrierten werden? Cristinas jüngste Schwester ist ihr bevorzugtes Beispiel.
Eine halbe Stunde später brechen sie auf. Philippa will bei ihren Freundinnen übernachten, Artur und Lurdes sind schon gegangen, und Hartmut wehrt die Versuche der männlichen Verwandtschaft ab, ihn zu einem letzten Getränk im Café zu überreden. Es folgt das übliche Palaver. Lachen und Necken, Wangenküsse und Schulterklopfen. Weitere zwanzig Minuten später gehen sie wirklich und steigen die steile Gasse hinab zum Fluss. Im Sommer ist er nur ein schmales brackiges Rinnsal. Auf der Brücke beginnt das Kopfsteinpflaster der älteren Dorfseite. Fledermäuse flattern um die wenigen Laternen, Grillen zirpen. Vor ihnen drängen sich die Häuser aneinander, den Hang hinauf, unter einem Himmel aus tausend Sternen.
«Ich wollte noch mal…«, setzt er an, aber Maria unterbricht ihn.
«Ich weiß. Ich auch.«
Hinter ihnen steht die kleine Marienfigur und daneben eine Vase mit frischen Blumen. Wenn Philippa die Stelle ein paar Mal zusammen mit ihrer Großmutter passiert hat, beginnt sie sich im Vorbeigehen zu bekreuzigen und signalisiert damit ihren Eltern, dass es Zeit wird, an die Küste zu fahren. Jedenfalls sagen sie das einander so.
Maria bleibt stehen, legt die Arme um seine Taille und flüstert:»Es ist ganz einfach. Ich hab Angst, dass es sich wiederholt.«
«Und ich weiß nicht, wie ich dir die Angst nehmen soll. «Sie festzuhalten und ihr Haar zu küssen wird nicht reichen.»Die Umstände waren alles andere als günstig, aber das wäre beim nächsten Mal anders. Wir suchen eine größere Wohnung oder gleich ein Haus. Wir planen. Wenn die Geburt auf den Beginn der Semesterferien fällt, hab ich Zeit. Ich muss nicht mehr jedem Lehrauftrag hinterherfahren nach Bochum oder Wuppertal. «Oben im Dorf bellt ein Hund, und sofort stimmen andere ein. Manchmal glaubt Hartmut, dass die Hunde von Rapa lauter bellen in den ersten Nächten nach der Ankunft von o Alemão, dem Fremden aus dem Norden.»Weißt du, ich will nicht nur ein zweites Kind, sondern die ganze Erfahrung noch einmal machen. Unter besseren Bedingungen, so dass wir beide sie genießen können. Beziehungsweise wir alle drei.«
«Meine Mutter hat früher schon gesagt: Du bist kein Familienmensch, Maria. Du kannst das nicht.«
«Du bist eine wunderbare Mutter. Eine viel bessere, als deine war.«
«Dich liebt sie mehr. Ich meine Philippa, und ich kann’s ihr nicht verdenken.«
«Es ist eine Phase. Ich bin seltener da, ich muss nicht so oft Nein sagen. Das ist die leichtere Rolle. Wir werden das alles ändern.«
Maria lacht ein kraftloses Lachen.
«Was für ein Optimist du geworden bist. Oder spielst du’s nur für mich?«
«Sag mir, was ich tun kann, Maria.«
«Ich hab mich mir selbst nie so fremd gefühlt. «Ihr gemeinsamer Schatten fällt bis in die Mitte der Brücke. Hartmut weiß, was kommt, er hat es oft gehört.»Alle sind in Verzückung geraten, wenn sie nur ihre Hände gesehen haben. Und das Lächeln, und die Augen. Und ich? Stell dir vor, wie es ist, wenn jemand alle Wärme aus dir rauszieht. Auf nichts kannst du mit Empathie und Liebe reagieren. Nicht mal auf dein eigenes Kind. Wenn das die milde Form ist, dann…«
«Es war nicht deine Schuld. Außerdem sehe ich nicht, dass es für Philippa die geringsten Folgen gehabt hätte. Wenn du sicher wüsstest, dass es beim nächsten Mal anders wird — würdest du’s dann trotzdem nicht wollen?«
«In Bonn?«, fragt sie.
Hartmut presst die Lippen zusammen, um den Seufzer nicht herauszulassen, der ihm in der Kehle sitzt. Heute Vormittag auf dem Balkon hat sie sich selbst undankbar genannt, und er wollte nicht denken, dass er sie insgeheim genau dessen bezichtigt. Nach dem Ende seiner Dortmunder Vertretung sind sie ins Umland gezogen, in ein kleines Häuschen mit Garten, wie junge Familien es in Werbespots für Schwäbisch-Hall tun. Weiße Wände und grüner Rasen, aber um die gestiegenen Kosten zu stemmen, musste er jeden Lehrauftrag annehmen, der im Umkreis von zweihundert Kilometern angeboten wurde. Maria kannte keinen Menschen da draußen. Verstand das komische Deutsch nicht, in dem Mütter am Spielplatz nach ihren Kindern riefen. Als ein arbeitsloser Lehrer aus der Nachbarschaft ihr nachzustellen begann, wurde es unerträglich. Ein triefäugiger Jammerlappen mit einem Kind in Philippas Alter. Auch seinetwegen war der Ruf nach Bonn eine Erlösung. Endlich entkamen sie den finanziellen Zwängen und der beruflichen Ungewissheit. Philippa ging in den Kindergarten, Maria erholte sich — und begann prompt, jeden verfügbaren Artikel über die neue Hauptstadt zu lesen. Während er sich noch zwicken musste morgens vor dem Spiegel, weil er nicht glauben konnte, dass er es wirklich geschafft hatte, wartete seine Frau schon auf den Tag, an dem er nach Hause kommen und sagen würde: Schatz, wir packen, ich hab eine Professur in Berlin.
Wenn es nicht Undank ist, dann ein naher Verwandter.
«Ist es wirklich so schlimm in Bonn?«, fragt er jetzt.»Ich meine, es liegt an uns, die Mittel zu genießen, die wir haben. Im Moment leben wir unter unseren Verhältnissen. Warum eigentlich?«
«Ja.«
«Ja — als Antwort worauf?«
«Es ist, als würde ich mehr und immer noch mehr von dir verlangen. Dabei will ich das gar nicht. Es hat mir nichts ausgemacht, wenig Geld zu haben. Ich hatte mein ganzes Studium über nichts. Das ist nicht der Punkt.«
«Sicher? Jede Mark umdrehen müssen, bevor man sie ausgibt. Jeden Morgen das Bett in den Schrank klappen. Mein Traum sieht anders aus.«
«Wie sieht er aus?«Sie legt den Kopf in den Nacken und schaut ihn an. Offenbar hat sie geweint, ohne dass es ihm aufgefallen ist.
«Wie du«, sagt er.»Wie du und ich und Philippa. Und vielleicht noch ein zweites Kind, das uns nachts den Platz im Bett streitig macht. So sieht er aus.«
Kurz stellt sie sich auf die Zehenspitzen und küsst ihn.
«Hab ich heute Mittag gesagt, dass ich dich liebe?«
«Ich will nicht kleinlich sein, aber, nein, hast du nicht.«
«Tu ich aber.«
«Stattdessen hast du gefragt, ob du weißt, wer ich bin, und ob ich weiß, wer du bist. Und hast dabei dreingeschaut, als wäre was Schlimmes passiert.«