«Du hast ein schwieriges Weib geheiratet.«
«Es wird weitere Stellen geben, Maria. Der ganze Osten braucht neue Professoren, auch der Osten von Berlin. Und ich werde mich bewerben, wie versprochen. Ich kann bloß weder hellsehen noch zaubern. Okay?«
«Okay.«
Dabei belassen sie es. Gehen den Weg hinauf ins alte Dorf, in dem seit Stunden niemand mehr unterwegs ist. Selbst die Glocken der Kirche werden erst morgen um sieben wieder läuten. Sie schlendern Hand in Hand, jeder den Blick auf die eigenen Füße gerichtet. Warum fühlt er sich, als würde er ihr etwas schulden? Es war ein merkwürdiges Gefühl, als er zu seinem Bewerbungsvortrag nach Berlin reiste. Sein erster Besuch seit damals, und er hat sich ganz aufs Berufliche konzentriert. Ist vom Bahnhof Zoo direkt nach Dahlem gefahren. Am Institut hat er seinen Vortrag gehalten, das Gespräch mit der Berufungskommission absolviert und vielleicht deshalb eine so gute Figur gemacht, weil etwas ihn davon abhielt, die Stelle mit letzter Konsequenz zu wollen. Als er eine Zeitung für die Rückfahrt kaufte, blickte ihn vom Titelblatt der Zitty das neue Enfant terrible des deutschen Theaters an. Mit seinem rötlichen Fusselbart und einer an Brecht erinnernden Lederjacke. Sprech/Akte/Ost lief sei Monaten vor ausverkauftem Haus. Jahrelang hatten sie in einer Kreuzberger Schublade gelegen, nun schlug ihre Stunde. Sprechende, singende, tanzende Stasi-Akten, die ihr Gift verspritzten gegen jene, die sie geschrieben hatten, und jene, derentwegen sie angelegt worden waren, sowie gegen alle, die vom Westen aus zugeschaut hatten. Ein wütendes, intelligentes und böses Spektakel. Da es alle beleidigte, wurde es von allen geliebt, außer von denjenigen, auf deren Abneigung es ankam. Ein CDU-Politiker nannte das Stück eine Verhöhnung der friedlichen Revolution, das stand zwei Tage später auf den Plakaten. In Talkshows saß Falk Merlinger mit verschränkten Armen auf seinem Platz und sagte sinngemäß — ein Mal auch wörtlich —, dass alle ihn am Arsch lecken könnten. In Bonn meinte Maria, sie freue sich für ihn. Und dass man ihm leider ansehe, wie der jahrelange Misserfolg ihm zugesetzt hatte. Wie bemüht seine coole Pose wirkte und wie schlecht ihm die Jacke stand. Ansonsten sprachen sie darüber nicht, wenn ihre abendlichen Berlin-Phantasien zum Wettstreit gerieten: Wer will es mehr? Wessen Wunsch ist dringlicher? Dann kam der Anruf von Dietmar Jacobs, und man hätte meinen können, dass die Fragen sich fortan erübrigten. Das Gegenteil war der Fall, sie ließen sich bloß nicht mehr stellen. Vielleicht hat er das nicht gewusst, aber geahnt an jenem Abend, als er seiner Frau nicht ins Gesicht sehen konnte. Als er sich zu seiner Tochter legte und hörte, wie Maria in der Küche den Abwasch erledigte, bevor sie die Wohnung verließ. Als sie zwei Stunden später zurückkam, lag er im Ehebett auf dem Rücken und fragte sich, was er fühlte. War er wütend, enttäuscht oder erleichtert? Er horchte auf ihr Tun im Bad und die Schritte im Flur. Roch den Tabakgeruch, noch bevor seine Frau unter die Decke schlüpfte und ihm den Rücken zukehrte. Er wollte sich entschuldigen und tat es nicht, weil er keinen Grund dazu hatte — nur den Wunsch. Außerdem das Bedürfnis zu wissen, dass weiterhin alles in Ordnung war. Dass nicht der Fluch seiner bösen Taten an Tereza ihn plötzlich einholte.
«Weißt du noch, was du heute Morgen gesagt hast?«Sie sind angekommen vor dem Haus seiner Schwiegereltern, und Maria sucht in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel.
«Was hab ich gesagt?«, fragt er.
«Wer hätte damals gedacht, dass ich diese Stelle in Bonn bekomme. Damals! Dabei ist es erst anderthalb Jahre her. Das macht mir auch Angst, weißt du. Was ist plötzlich mit der Zeit los? Ich verstehe das nicht.«
«Wir leben«, sagt er.»Das ist los. Nicht mehr nur in Träumen, Büchern und Ideen, sondern wirklich und mit Kind. So fühlt sich das an. Es ist normal.«
«Und dass es mir Angst macht?«
«Das auch, jedenfalls zeitweise. Du könntest es erkennen und dich langsam davon befreien.«
Sie hat den Schlüssel gefunden und öffnet die Tür.»Es ist komisch. Immer wenn wir darüber sprechen, hab ich den Eindruck, dass du besser verstehst, wo die Probleme liegen. Sogar wo meine liegen. «Statt einzutreten, hält sie inne und dreht sich zu ihm um.»Trotzdem. Nichts von dem, was du sagst, kann mich wirklich überzeugen. Du hast bloß recht, das ist alles.«
~ ~ ~
10 Hartmut schlägt die Augen auf und ist sofort hellwach. Durch zugezogene Gardinen dringt Sonnenlicht ins Zimmer und gibt ihm das Gefühl, verschlafen zu haben. Die nackten, nur von einem bronzenen Kruzifix gezierten Wände schimmern in der Farbe zu dünnen Kakaos. Ungeduldig tastet er auf dem Nachttisch nach seiner Brille, findet sie und richtet sich im Bett auf. Viertel vor neun, nicht so spät wie befürchtet. Er lässt sich aufs Kopfkissen zurücksinken und erhascht die Reste eines wirren Traums, vage erotisch und so reich an Wendungen wie der gestrige Tag. Marijke schläft sicherlich noch. Sechs bis sieben Stunden Fahrt liegen vor ihnen, hat er überschlagen, vielleicht mehr. Die ungeplante Pause gestern war angenehm, aber heute will er so schnell wie möglich aufbrechen. Hinter den grünen Vorhängen wartet ein freundlicher Tag. Irgendwo schnattern Gänse.
Unter der Dusche versucht er sich an das Wenige zu erinnern, das er über Santiago de Compostela weiß. Gallego heißt die von Portugiesisch kaum zu unterscheidende Sprache, die dort gesprochen wird. Warum Philippa ausgerechnet in dieser Stadt ihr Spanisch vervollkommnen will, ist ihm ein Rätsel. Via Skype hat er letzte Nacht mit ihr gesprochen und eine Verabredung für den Nachmittag getroffen. Um Zeit zu sparen, verzichtet Hartmut auf seine morgendliche Rasur und beschließt, das Auto zu holen, während seine Mitfahrerin frühstückt.
Den gefalteten Zettel unter der Tür entdeckt er erst beim Verlassen des Badezimmers. Sofort fällt ihm Marijkes gestrige Umarmung ein und dass er gedacht hat, so verabschiedet man sich nicht für eine Nacht. Jetzt stehen zwei Zeilen unter dem schlichten Briefkopf der Pension und bestätigen seine Befürchtung: Ich bin sicher, du wirst das verstehen. Es war schön mit dir. Vielen Dank und alles Gute, M.
Sonst nichts.
Enttäuscht setzt er sich aufs Bett und widersteht dem Impuls, ans Fenster zu stürzen, um nach ihr zu sehen. Vielleicht lag der Zettel schon länger dort. Die nach rechts geneigte Handschrift erinnert ihn an seine eigene. Nicht hastig, aber entschieden. Weder E-Mail-Adresse noch Handynummer hat sie ihm hinterlassen, erst recht keinen Hinweis darauf, wohin sie aufgebrochen ist. Nachdem er die Nachricht ein paar Mal überflogen hat, findet er die Geste nicht mehr schnöde, sondern angemessen. Spurlos zu verschwinden passt zu ihr. Außerdem schuldet sie ihm nichts und muss selbst wissen, was sie tut.
Dir auch alles Gute, denkt er, knüllt den Zettel zusammen und packt seine Sachen. Gestern in der Werkstatt hat er die Utensilien für eine Nacht in seinen schwarzen Rucksack gestopft, den er sich jetzt lässig über die Schulter hängt, als er nach unten geht, um die Rechnung zu begleichen. Auf den morgendlichen Kaffee verzichtet er. Um zwanzig nach neun tritt er hinaus auf die Straße.
In der Altstadt sind um diese Zeit nur Lieferanten unterwegs. Fässer werden gerollt und Kisten geschleppt. Hartmut überquert die leere Plaza Mayor und steigt die Stufen hinab zum Fluss. Schwalben schwirren durch die kühle Morgenluft, dann die blechernen Schläge einer Kirchturmuhr, die er auch in der Nacht gehört hat. Nach der Rückkehr aus der Bar konnte er nicht einschlafen. Eine halbe Stunde lang hat er sich hin und her gewälzt und mit sich gerungen, dann war der Kampf entschieden. Er stand wieder auf und schaltete den Computer ein. Ging auf die Google-Seite. Tereza Ortez hieß sie. Unzählige Treffer erschienen, aber nachdem er den ersten zwanzig nachgegangen war, ohne einen Hinweis auf seine frühere Freundin zu erhalten, brach Hartmut die Suche ab. Sagte sich, dass sie längst ihr Glück gefunden und den Nachnamen geändert hatte. Gewissensberuhigung gehört zu den wenigen Dingen, die man nicht übers Internet beziehen kann. Unter Marijkes Namen stieß er auf Kolumnen, die sie für ein Online-Magazin namens kras geschrieben hatte. Eine klickte er an, verlor auf halbem Weg das Interesse und legte die Finger unschlüssig auf die Tastatur. Sollte er sich wieder anziehen und einen Spaziergang machen? Zurück in die Bar gehen? Im nächsten Moment erschien am oberen Bildrand die Meldung ›Philippa ist online‹. Seit Neuestem informierte ihn der Computer, wenn einer seiner beiden Skype-Kontakte erreichbar war, und jetzt konnte er nicht widerstehen.