Выбрать главу

Er klickte zwei Mal, dann ertönte wie von weit her ein Freizeichen. Mitternacht war vorüber, und je länger es klingelte, desto mehr fühlte er sich wie ein Störenfried. Gerade wollte Hartmut auf den roten Hörer klicken, als sich der Bildschirm umbaute. Die rechte Hand zum Gruß erhoben, saß Philippa in einem dämmrigen Zimmer, trug den blauen Kapuzenpulli ihrer Hamburger Uni und sagte:»Hola Papá.«

Sein eigenes Gesicht hockte in einem Fenster am Bildrand. Zaghaft winkte er in die Kamera.»Hallo. Stör ich dich?«

Seine Tochter schüttelte den Kopf. Die neuerdings kurzen Haare standen ihr gut, betonten das hübsche Gesicht mit Marias grünen Augen und passten zu seinen eigenen, ins Weibliche gewendeten Zügen: der großen Nase und dem relativ starken Kinn. Insignien einer willensstarken Person. Statt das Gespräch in Gang zu bringen, lächelte er sie ein paar Sekunden in stummem Vaterstolz an. Forschend näherte sich Philippa dem Bildschirm.

«Du bist nicht in Bonn.«

«Schon lange nicht mehr, ich bin in Spanien. In den Picos de Europa, genauer gesagt.«

«Was machst du plötzlich in Spanien?«

«Eigentlich wollte ich schon in Santiago sein, aber leider hatte das Auto eine kleine Panne. Also müssen wir eine Nacht hier verbringen. Sieh dich vor, morgen bin ich bei dir.«

«Wir?«

Nebenan wurde das Fenster geöffnet und wieder geschlossen. Wahrscheinlich dachte Marijke darüber nach, wie sie es schaffen könnte, ihren Verlobten nur um seinetwillen zu lieben und den Bassisten zu vergessen. Am liebsten hätte er sich auf die Zunge gebissen.

«Ich.«

«Du hast ›wir‹ gesagt.«

«Eine unserer liebenswerten, rückwärtsgewandten Schrullen. Aber sprecht selbst, Philippa von Compostela, wie geht es Euch?«

«Dreh mal bitte den Laptop.«

«Flippa…«Mit einem Seufzer gehorchte er und verfolgte im kleinen Fenster seine Kameraführung. Die schmale Tür zum Bad, der winzige alte Fernseher. Weil Marijke sich nicht hatte einladen lassen und er ihr Budget nicht kannte, wohnte er so spartanisch wie lange nicht mehr. Konnte von Glück sagen, dass es einen funktionierenden Internetanschluss gab, obwohl dieses Glück sich gerade gegen ihn wendete.

«Andere Seite«, befahl seine Tochter.

Kurz verharrte er bei dem schmalen Einzelbett, dann stellte er den Laptop wieder ab und bemühte sich um eine vorwurfsvolle Miene. Eigentlich gefiel ihm diese Loyalität zur elterlichen Ehe — falls er Philippas Detektivarbeit so verstehen durfte.

«Zufrieden? Ich hab eine Frau mitgenommen, die mich am Morgen auf dem Parkplatz angesprochen hat. Eine junge Holländerin, die bald heiraten wird und keine Abenteuer mit älteren Männern sucht.«

«Du machst also Urlaub«, sagte sie, als würde er ständig vom Thema abkommen.

«Ja. Ich brauchte eine Auszeit von der Uni und hab endlich Bernhard Tauschner besucht. Schöne Grüße übrigens. Dann dachte ich, jetzt kann ich auch durchfahren bis Santiago. Freust du dich?«

Darauf antwortete Philippa nicht, sondern drehte an ihrem Nasenring und schien einen Blick zu wechseln mit jemandem, der hinter dem Laptop stand.

«Ist das dein Zimmer?«, fragte er.

«Yep. «Klein, aber mit hoher Decke, wenn er es richtig erkannte. Ein Bett, eine Fensterbank, mehr war nicht auszumachen. Das wenige Licht fiel durch eine offene Tür herein.

«Sieht hübsch aus.«

«Billig ist es. Du solltest das Bad sehen. «Sie schüttelte sich und musste lachen.

«Ich weiß, es ist schon spät, aber ich wollte mich wenigstens ankündigen. Wenn der Automechaniker seine Zusage hält, könnte ich am späten Nachmittag ankommen. Morgen Nachmittag.«

«Ausgerechnet morgen geht mein Unterricht länger.«

«Notfalls beschäftige ich mich ein paar Stunden selbst. Keine neue Situation für deinen Vater. «Nebenan glaubte er, Marijke telefonieren zu hören.

«Okay, wie du meinst«, sagte Philippa.»Wie ich dich kenne, hast du schon ein Hotel gebucht.«

«Du hast angedeutet, du kennst eins in deiner Nähe.«

«Nicht in meiner Nähe, in der Altstadt. Du willst auf jeden Fall in der Altstadt wohnen. Ich bin ein paar Kilometer außerhalb untergebracht, am Nordcampus.«

«Was auch immer am praktischsten ist«, sagte er.

«Warte einen Moment. «Philippa stand auf und gab den Blick frei auf das schemenhafte Stillleben ihres Zimmers. Unverkennbar war es ein auf Zeit bezogenes Domizil, karg und — der Ausdruck schoss ihm durch den Kopf — konspirativ. Was er für die Bettkante gehalten hatte, entpuppte sich als Umzugskiste vor einer auf dem Boden liegenden Matratze. Daneben stapelte sich ein halbes Dutzend Bücher. Der Anblick erinnerte ihn an Marias Wohnung in Pankow.

Aus dem Lautsprecher rauschte und pfiff es. Jemand lief so dicht an der Kamera vorbei, dass Hartmut nicht erkennen konnte, ob es sich um Philippa oder eine andere Person handelte. Wartend saß er vor dem Bildschirm, betrachtete seine eigene missmutige Miene und horchte auf Gesprächsfetzen im Hintergrund. Im ersten Semester hatte er seiner Tochter den einen oder anderen Tipp zur Studienplanung geben können, ohne dass sie es aufdringlich fand. Mittlerweile schien seiner väterlichen Anteilnahme ihrerseits das nachlassende Bemühen zu entsprechen, den alten Mann in Bonn auf dem Laufenden zu halten. Maria mochte beschwichtigend von Abnabelung reden, er spürte die stärker werdende Drift. Sein Verdacht war, dass Maria ihrer Tochter von dem großen Streit erzählt hatte und Philippa auf Abstand ging zu dem brüllenden Tyrannen, der in ihm schlummerte. Aus Angst, Groll oder weiblicher Solidarität, vielleicht unbewusst.

«Da bin ich wieder«, sagte sie und nahm vor dem Bildschirm Platz.»Hast du was zu schreiben? Das Hotel und ein Café, wo wir uns treffen können. «Die Vorfreude, die aus ihrer letzten Mail gesprochen hatte, war der kühlen Umsicht gewichen, mit der sie sein Kommen vorbereitete.

«Danke. Kommt mein Besuch dir sehr ungelegen?«

«Nein. Hab ich doch geschrieben. Ich muss halt zum Unterricht, vier Stunden am Tag. Ansonsten hab ich meistens Zeit. Sogar ein Parkhaus hab ich für dich aufgetrieben. Du kannst nicht direkt vors Hotel fahren, da ist gesperrt.«

«Wer ist bei dir?«, fragte er, weil wieder ein Schatten über die Wand huschte.

Philippa drehte den Kopf, als müsste sie erst nachschauen.

«Es mi amiga. Wir wohnen zu dritt.«

«Okay. Ich hab einen Stift.«

Philippa diktierte ihm zwei Namen und Adressen, dann war alles gesagt. Aus Kopenhagen habe sie in den letzten Tagen nichts gehört, antwortete seine Tochter auf Nachfrage, wahrscheinlich drehten da oben alle durch.

«Bis morgen. «Wie ein weiser Indianerhäuptling hob sie die Hand.

«Gute Nacht.«

Nach dem Gespräch kam ihm das Zimmer noch enger vor. Eine Kirchturmuhr schlug ein Mal. Hartmut reservierte ein Zimmer im Hotel San Miguel, las dies und das zur Geschichte von Santiago und klappte seinen Laptop zu. Aus Marijkes Zimmer war kein Geräusch mehr zu hören. Jedes Mal, wenn andere auf Distanz zu ihm gingen, befiel ihn dasselbe merkwürdige Gefühl, als hätte er es weder anders erwartet noch besser verdient. Noch einmal tauchte Terezas Gesicht vor ihm auf. Offenbar wisse er gar nicht, wonach er suche, hatte sie beim Abschied gesagt. Im Aufwachraum, als er schon in der Tür stand. Wenn ich’s finde, werde ich’s wissen, glaubte er geantwortet zu haben. Das war die letzte Unterredung, und genau so ist es gekommen. Wie sonst könnte er jetzt solche Angst haben, alles wieder zu verlieren?