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Ein Gong reißt ihn aus seinen Gedanken, darauf folgt eine Ansage auf Spanisch. Eine Gruppe Asiaten geht an ihm vorbei, die Erwachsenen andächtig und ein paar Kinder sichtlich gelangweilt. Auf der anderen Seite des Mittelgangs nehmen sie Platz und falten wie auf Kommando die Hände. Nur die Reiseführerin bleibt stehen und zählt mit stummen Lippen die Reihen durch. Offenbar beginnt in Kürze die nächste Messe.

Als Hartmut die Kathedrale verlässt, hat der Regen aufgehört, und der Himmel wird heller. Er zieht den Stadtplan aus der Tasche, auf dem er den Standort des Cafés markiert hat. Es befindet sich ganz in der Nähe seines Hotels, im Erdgeschoss eines Hauses, das einmal zur angrenzenden Kirche San Martino gehört haben muss. Auf dem abschüssigen Platz davor wird Fußball gespielt. Ein Stück der Außenmauer dient als Tor. Was die jungen Akteure einander auf Gallego zurufen, kann Hartmut größtenteils verstehen, als er auf die Tischgruppe zugeht, die vor dem Eingang des Cafés auf Besucher wartet. Drinnen empfangen ihn braune Bodenkacheln und ockergelb getünchte Wände, eine Bilderserie zeigt weltliche Helden: John Belushi, Peter Falk, Lee Van Cleef und andere. ›Tus muertos favoritos‹ steht als Titel über den Porträts. Die weibliche Bedienung hinter der Theke trägt einen Haarschopf, der mühelos für zwei Köpfe reichen würde — und ein großes Kissen, denkt Hartmut, grüßt freundlich und entscheidet sich für einen Ecktisch, von dem aus er den Kirchplatz im Blick behält. Bis zu Philippas Eintreffen bleibt ihm eine Stunde.

Der Druck auf seiner Brust ist verflogen. Der Wechsel der Atmosphäre tut ihm gut. Außer ihm befinden sich nur drei Gäste im Café. Ein junger Mann sitzt konzentriert vor seinem MacBook, und zwei Mädchen in Philippas Alter räkeln sich plaudernd in tiefen Ledersesseln. Auf Portugiesisch fragt Hartmut nach der Karte und hat Mühe, nicht den schwarzen Wischmopp anzustarren, der auf dem Kopf der Bedienung hin- und herwippt, wenn sie nickt. Rastalocken sprießen aus einem gemusterten Tuch und fallen seitlich herab. Das Gesicht ist blass und durchschnittlich, trotz der stark geschminkten Augen. Noch bevor er die Karte aufschlägt, bestellt er einen großen Milchkaffee.

Da es keine warme Küche gibt, wählt er den hausgemachten Schokoladenkuchen, unterdrückt die Lust auf ein alkoholisches Getränk und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Im Hintergrund spielt John Coltrane Saxophon. Die trichterförmige Zigarette, die eins der beiden Mädchen dreht, erinnert ihn an Marias Behauptung, dass es ihm guttun würde, wenn er sich hin und wieder einen Joint reinzöge. Wie oft sie selbst es tut, wollte sie nicht sagen. Das sei unter Theaterleuten nichts Besonderes. Manchmal fragt er sich, warum in ihrem Fall die Ehe nicht bewirkt, was ihm wie eine natürliche und beinahe zwangsläufige Folge langjähriger Zweisamkeit erscheint: dass die Partner gemeinsame Interessen und Gewohnheiten ausbilden. Liegt auch das in ihrer unterschiedlichen Herkunft begründet? Als er die Frage seiner Frau gestellt hat, sah er sich sofort dem Verdacht ausgesetzt, das sei ein versteckter Vorwurf an sie. Statt zu antworten, bedrängte sie ihn mit einer Reihe von Gegenfragen. Ob er vielleicht einen etwas kleinbürgerlichen Begriff von der Ehe habe? Ob er es vorzöge, wie Ruth und Heiner zu leben? Schwierige Frage, dachte er und schüttelte entschieden den Kopf. Nach zwanzig Jahren hört er, wenn das Eis unter seinen Füßen knackt.

Sein Schokoladenkuchen kommt.

Die Diskussion fällt ihm ein, weil er auch damals an den Aufenthalt in Coimbra denken musste. An den rätselhaften Kitzel des Nichtwissens. Einige Jahre später hat Maria von sich aus erzählt, wie sie zur Beichte gegangen war, als Philippa und sie einmal in Rapa Ostern feierten, ohne ihn. Was sie motiviert hatte, wusste sie nicht, und musste lachen über die seltsame Eingebung. Sie habe es einfach getan, ohne Grund. Zwei Rosenkränze seien ihr aufgebrummt worden, entweder habe sie nicht viel verbrochen oder nicht alles gestanden.

Als Hartmut nach draußen schaut, sieht er Philippa über den Kirchplatz radeln. Unerwartet, fast eine Stunde früher als verabredet. Sie trägt einen grünen Parka und hat sich ihre Tasche quer über den Oberkörper gehängt. Wie früher in Bonn steht sie auf den Pedalen, bremst spät und fährt am Café vorbei aus seinem Blickfeld. Durchs Fenster hört er das metallische Klicken eines Fahrradschlosses, kurz darauf geht die Tür auf, und obwohl Hartmut sich freudig von seinem Platz erhebt, steht er in der nächsten Sekunde unsichtbar in ihrem Rücken. Mit ein paar schnellen Schritten ist Philippa zur Theke geeilt, begrüßt die Bedienung wie eine alte Bekannte, und Hartmut lächelt ins Leere.

›Hola‹ versteht er und ›qué tal?‹. Lachend tauschen die beiden Wangenküsse und streichen einander über die Oberarme. Mit dem, was sie sagt, bringt Philippa den schwarzen Wischmopp ihrer Freundin in schaukelnde Bewegung. Dass sie aus alltäglichen Begebenheiten witzige Geschichten machen kann, weiß er, und dennoch berührt ihn der Anblick schmerzlich. Philippas rechte Hand fährt Slalom durch die Luft, die linke nähert sich im spitzen Winkel. Ein Vorfall unterwegs, der gut ausgegangen sein muss, jedenfalls brechen die beiden erneut in Lachen aus, als die Hände sich treffen. John Coltrane ist zum nächsten Stück übergegangen. Vertieft in ihre Erzählung, zieht Philippa den Parka aus und legt ihn über einen Barhocker. Hartmuts Wiedersehensfreude schwebt, folgt dem Saxophon auf eine Warteschleife und lässt ihn von der Bedeutung des Moments nur einen Teil erfassen. Einen Zipfel, nicht das Ganze.

Dann erst schaut Philippa sich im Raum um.

«Hallo«, sagt Hartmut und spürt, wie alle Augen im Café sich auf ihn richten. Seine Stimme wird laut, wenn er nervös ist.

«Papa…«Einen Moment lang verharrt sie ebenso überrascht wie er. Lacht unsicher, bevor sie ihm entgegenfliegt, ihn auf die Wange küsst und etwas fragt, das er sie bitten muss zu wiederholen. Ihren Duft erkennt er sofort, und die flüchtige Süße der Umarmung.

«Warum du schon so früh hier bist?«Die grünen Augen kommen ihm jedes Mal größer vor.»Wir hatten gesagt sechs Uhr, oder nicht? Frühestens.«

«Du kennst meine Gründlichkeit«, sagt er.»Ich wollte die Location in Augenschein nehmen. Mich einstimmen auf das Event unseres Wiedersehens. «Damit entlockt er ihr ein mildes Kopfschütteln, und mehr wollte er nicht. Noch einmal springt Philippa zurück an die Theke, holte ihre Jacke und wechselt ein paar Worte mit der Freundin. Im nächsten Moment sitzt sie ihm gegenüber, stützt beide Ellbogen auf den Tisch und bedient sich von seiner Schokoladentorte.

«Dich hab ich so früh nicht erwartet«, sagt er.»Sonst hätte ich zwei Stücke bestellt.«

«Hm, hm«, macht sie mit vollem Mund und schluckt.»Extra deinetwegen hab ich auf die zweite Stunde verzichtet.«

Hier sitzen wir, denkt er. In einem Café in Santiago, Philippa flunkert und isst ihm den Kuchen weg, und er ist einen Moment lang wunschlos glücklich. Sie trägt Turnschuhe, Jeans und außer ihrem Nasenring fast keinen Schmuck, nur ein von der portugiesischen Oma geschenktes Kettchen. Früher einmal hat ihr alles am besten geschmeckt, wenn sie es von seinem Teller stibitzen konnte.

«Hast du schon was gesehen?«, will sie wissen.

«Nur die Kathedrale und ungefähr zehntausend Pilger. Ich wusste nicht, dass so viele Menschen den Jakobsweg laufen.«

«Auswüchse des Massentourismus«, sagt sie verächtlich. Oder ironisch? Beinahe geht es ihm wie kurz nach der Ankunft, beim ersten Gang durch die Gassen. Mehr Eindrücke strömen auf ihn ein, als sein Gehirn verarbeiten kann. Emotionen in kleinen Teilen, die zu ordnen ihn überfordert. Lieber will er einfach sitzen und schauen, seiner Tochter zuhören und reden.

«Und du bist wirklich die ganze Strecke mit dem Auto gefahren?«, fragt Philippa.»In Mamas letzter Mail hieß es, ihr überlegt, ob ihr zusammen fliegen wollt, hierher oder nach Lissabon. Normalerweise überlegt ihr länger.«

«Diesmal ist meine berühmte Spontaneität mit mir durchgegangen. Stell dir vor, Montagabend fiel der Entschluss, Dienstagmittag war ich unterwegs. Für mein Alter nicht schlecht, oder?«