Philippa schaut ihn an, als überlege sie, ob das, was er verschweigt, sie genug interessiert, um nachzuhaken.
«War’s schön?«, fragt sie lediglich.
«Ungewohnt. Ich bin seit Jahren nicht mehr alleine durch die Gegend gefahren. Genauer gesagt, seit ich mit deiner Mutter zum ersten Mal nach Portugal gereist bin. Das war kurz nach den Kreuzzügen. Habe ich dir schon Bernhards Grüße bestellt?«
Nickend schiebt sie ihm das halb gegessene Stück Kuchen zu und lehnt sich zurück. Ihr Körper ist immer noch so schlaksig wie während der Wachstumsjahre, aber sie bewegt sich selbstbewusst und entschieden. Vielleicht des Jiu-Jitsu-Trainings wegen, mit dem sie in Hamburg begonnen hat. Vielleicht aus keinem bestimmten Grund. Die tausend Fragen, die er stellen möchte, haben sich hinter die Grenzen des Augenblicks zurückgezogen und warten. Falls sein Besuch ihr ungelegen kommt, lässt Philippa sich das nicht anmerken, und da dies nicht ihrer Art entspräche, liegt die Vermutung nahe, dass seine Tochter sich freut, ihn zu sehen. Vielleicht hätte sie sich sogar über einen Besuch in Hamburg gefreut.
«Avô geht’s nicht gut«, sagt sie plötzlich. Für ihre Großeltern in Rapa benutzt sie die portugiesischen Bezeichnungen, auch wenn sie Deutsch spricht. Avô für Artur und Avó Lu für Lurdes.
«Was heißt ›nicht gut‹ — das Herz?«
«João hat gestern eine SMS geschickt. Sie überlegen, ihn nach Guarda zu bringen.«
«Verstehe. Aber wenn João sich einschaltet…«, muss es ernst sein, verbietet er sich hinzuzufügen.
Philippa zuckt betrübt die Schultern und blickt zu den beiden rauchenden Mädchen. Eindeutig das würzige Aroma von Haschisch, das von dort zu ihnen herüberweht. Draußen hat die Sonne das Kopfsteinpflaster vor der Kirche getrocknet. Weiter oben ziehen Touristen und Pilger scharenweise über die Rúa da Porta da Pena.
«Ist es das Herz?«, fragt Hartmut.
«Vor einigen Tagen hat er über Schmerzen in der Brust geklagt und sich am späten Nachmittag ins Bett gelegt. Seitdem verbringt er die meiste Zeit auf dem Balkon, hat eine Hand auf der Brust und verzieht das Gesicht. Wenn Avó Lu ihn fragt, antwortet er, es dauert nicht mehr lange.«
«Das sagt er, seit ich ihn kenne. Das sagt er, so wie andere sagen: Morgen regnet’s.«
«Manchmal regnet’s wirklich. «Eine für seine Tochter untypische Bemerkung. Sie mag keine pessimistischen Anspielungen auf Krankheit und Tod, alles Morbide erregt ihren Abscheu. Draußen besetzen Gäste die Tische vor dem Fenster. Muschelträger natürlich. Seit sie in solchen Massen auftreten, sind sie ihm suspekt. Eine Fraktion unter anderen in der globalen Spaßgesellschaft. Philippas Augen schimmern feucht.
«Machst du dir Sorgen?«, fragt er.
Lächelnd zieht sie die Nase hoch und sieht aus wie Maria als junge Frau. Genau wie ihrer Mutter wäre es ihr lieber, sie würde weniger leicht weinen.
«Wahrscheinlich ist es falscher Alarm.«
«Bestimmt. Mach dir keine Gedanken.«
Als ihr Milchkaffee kommt, nutzt Philippa die Gelegenheit, ihren Vater und die Bedienung einander vorzustellen. Marta heißt sie und ist eine von Philippas Mitbewohnerinnen. Sie fragt, ob der Kuchen schmeckt und noch etwas, das Hartmut nicht versteht. Dann lässt sie die Gäste wieder alleine.
Aus der Ecke der beiden Mädchen ertönt anhaltendes Kichern.
«Tust du das auch gelegentlich?«, fragt Hartmut.»Haschisch rauchen.«
«Ich mag keinen Tabak.«
«Nie probiert?«
«Doch. Aber mir wird schlecht davon.«
«Deine Mutter raucht ab und zu. Ich meine Joints.«
«Alle im Ensemble tun es. Mama noch am wenigsten.«
«Merlinger?«
«Keine Ahnung. Der ist ein Freak und nimmt wahrscheinlich härtere Sachen. «Verächtlich winkt Philippa ab und dreht an ihrem Nasenring. Bei aller Nähe zu ihrer Mutter macht sie keinen Hehl daraus, dass ihr diese Berliner Konstellation nicht gefällt. Maria erzählt, dass ihre Tochter sie regelrecht grille, wenn die beiden einander sehen. Ohnehin ähnelt Philippa in Marias Erzählungen mehr dem früheren Papakind als der distanzierten jungen Frau, die er erlebt. Jetzt schaut sie ihn an, als sei sie in Gedanken noch in Rapa. Ihre Liebe zu den Großeltern und dem Onkel in Lissabon hat etwas von der schicksalhaften Wucht des Wortes ›Blutsbande‹, auch darin ähnelt sie ihrer Mutter. Im Gegensatz zu Maria tut sie allerdings nicht so, als wäre es ihr anders lieber.
«Wenn es ernst sein sollte, fahren wir hin«, sagt er, um sie aufzumuntern.»Nach Rapa oder Guarda. Sind ja nur ein paar Stunden.«
«Und Mama?«
«Ich hab in den letzten Tagen nicht mit ihr sprechen können. Mein Telefon ist tot, und das Ladegerät liegt in Bonn. So oder so müsste sie nachkommen.«
«Weiß sie, dass du hier bist?«
«Bisher nicht.«
«Was ist eigentlich los mit euch?«Ihr verständnisloses Kopfschütteln kennt er nur zu gut.»Seit wann fährst du quer durch Europa, ohne ihr das zu sagen? Stattdessen fragst du mich bei jedem Gespräch, ob ich mit ihr gesprochen habe und was es Neues gibt.«
«Wie häufig das vorkommt!«
«Redet ihr überhaupt noch miteinander?«
«Fernmündlich meistens. Da entstehen immer mal wieder Pausen und tote Winkel. Wie du weißt, hält deine Mutter sich gerade in Kopenhagen auf.«
«Ja? Wenn ich sie fragen würde, wo du bist, würde sie sagen: Der sitzt in Bonn an seinem Schreibtisch, wie immer.«
Die Bedienung wirft ihnen Blicke zu, als Philippas Stimme energisch wird. Vielleicht weiß sie um die schwierigen Verhältnisse im Hause Hainbach und Pereira. Beziehungsweise in den drei Häusern.
«Ich hab mich spontan auf den Weg gemacht, ohne es deiner Mutter zu sagen, weil ich eine Entscheidung treffen muss. «Hartmut macht eine Kunstpause und leert seine Tasse. Um keine Rast einlegen zu müssen, hat er unterwegs wenig getrunken, jetzt glaubt er, eine feine Staubschicht in seiner Kehle zu spüren.»Nämlich diese: Soll ich unser Haus verkaufen und meine Professur aufgeben, um eine Stelle in Peter Karows Verlag anzunehmen? Ja oder nein? Keine leichte Entscheidung, wie du zugeben wirst. Also wollte ich in Ruhe nachdenken.«
Philippa bläst die Backen auf, hält still und entlässt die Luft mit einem ploppenden Geräusch.»Und warum?«
«Ich will die Sache nicht dramatisieren, aber ich finde es zunehmend unerträglich, alleine zu leben. Ich bin zu alt dafür. Das ist der Hauptgrund.«
«Also ihretwegen«, sagt Philippa.»Wegen Mama.«
«Jedenfalls nicht aus Liebe zu Peter Karow, wenn du verstehst, was ich meine. Kennst du ihn?«
«Flüchtig. Er war damals bei der Premierenfeier.«
«Wenn ich es tue, dann für sie und mich. Aber nur, wenn ich sicher sein kann, dass sie es auch will. Beruflich wäre es ein Rückschritt. Finanziell sowieso.«
«Du bist nicht sicher?«
Die Nachfrage führt ihm vor Augen, wie bezeichnend es für den Zustand ihrer Ehe ist, dass er darauf nicht mit einem entschiedenen ›Doch!‹ antwortet. Draußen unterhalten sich die Muschelheinis im gebrochenen Englisch des europäischen Südens. Soweit Hartmut etwas verstehen kann, wird mit Kilometern geprotzt. Offenbar gibt es auch bei Pilgerwegen Routen für Weicheicher und welche für echte Kerle.
«Ich verstehe immer noch nicht, warum sie nach Berlin gegangen ist«, sagt er.
«Um zu arbeiten.«
«Schon klar. Aber war das wirklich der einzige Job im Umkreis von fünfhundert Kilometern? Sie hat es mir erklärt, wir haben darüber gesprochen. Verstehen kann ich es nicht. Also lebe ich damit, aber es wird nicht leichter.«
Philippa verschränkt die Arme und sieht zur Theke. Wahrscheinlich ahnt sie, dass er ihre Ermutigung sucht und kann sich nicht überwinden zu sagen, was sie gerne sagen würde: Macht das gefälligst unter euch aus. Auf einmal schaut sie so wie kurz vor den Ausbrüchen, die ihre Pubertät geprägt und Maria in die Verzweiflung getrieben haben. Ihn nicht, weil er seltener die Zielscheibe war und die Wut ihm vertraut vorkam.