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»Wie geht es Irene?« fragte Max Quidor, aber seine kalte Stimme ließ jede echte Anteilnahme vermissen.

»Besser als noch gestern abend«, antwortete Vivian, während sie versuchte, ihre quälende Müdigkeit abzuschütteln.

Der Mann aus New York nickte leicht. »Schön. Würden Sie uns allein lassen?«

Sie sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Warum?«

»Weil ich es wünsche. Wie Sie wissen, sind Irene und ich alte Bekannte. Ich möchte mich gern ein wenig mit dir unterhalten.«

»Ich glaube nicht, daß es ihr schon wieder gut genug für eine Unterhaltung geht. Sie ist noch sehr schwach. Außerdem schläft sie im Moment.«

»Dann werde ich sie wecken«, entgegnete Quidor hart.

Spätestens jetzt begriff Vivian, daß er es nicht gut mit Irene meinte. Aber was sollte sie schon tun? Quidor hatte einen ganzen Trupp Bewaffneter zur Verfügung, und sie war allein. Außerdem durfte sie ihre Mission nicht gefährden, indem sie sich mit dem Mann überwarf.

»Also gut«, sagte sie deshalb seufzend und erhob sich. »Aber beanspruchen Sie die Frau nicht zu sehr.« Sie ging zur offenen Tür und wandte sich dort noch einmal um. »Falls etwas sein sollte, ich bin in der Nähe.«

Sie hoffte, das würde Quidor von Dummheiten abhalten, aber sie war sich dessen nicht sicher.

Auf dem Promenadendeck bemerkte sie Jeanette Latour, deren Blicke noch genauso unfreundlich waren wie bei ihrer ersten Begegnung.

Je näher Vivian Max Quidor kannte, desto unheimlicher und unsympathischer wurde er ihr. Obwohl sie für dieselbe Sache eintraten. Aber Vivian tat es aus Leidenschaft und Verantwortungsgefühl, Quidor nur für Geld. Ihm war es egal, ob er Waffen an den Süden, den Norden oder nach Mexiko verhökerte. Hauptsache, seine Taschen füllten sich mit Dollars.

Aber wenn sie in seine Augen sah, schien da noch mehr zu sein als Geldgier. Gemeinheit oder sogar Bosheit. Ja, er schien es zu genießen, anderen Menschen Angst einzuflößen. Seine gutgeschnittenen Gesichtszüge täuschten einen leicht darüber hinweg, daß hinter der Maske ein dunkler Abgrund lauerte.

Es war ein verrückter Gedanke, aber Quidor erschien ihr wie der Teufel in Menschengestalt.

*

Etwas schüttelte sie. Ein Sturm auf dem Atlantik? Die Kutsche, mit der sie aus New York flohen? Dann fiel es Irene ein. Nein, sie waren auf dem Ohio, an Bord der ONTARIO.

Ein Gesicht war ganz dicht über ihrem, das Gesicht eines Mannes. Erst sah sie es nur undeutlich und dachte an Carl. Aber Carl war ja nicht an Bord. Er war unterwegs nach Oregon oder vielleicht schon dort.

Martin? Dazu war das Gesicht nicht rund genug, und die Sommersprossen fehlten.

Dann also Jacob! Es war ein gutaussehendes Gesicht, so wie das von Jacob. Aber die Haare, die unter einem hellen Hut hervorlugten, waren zu dunkel, und die Gesichtszüge wirkten nicht offen und freundlich, sondern verschlagen und auf eine schlechte Art triumphierend.

Aber sie kannte dieses Gesicht, hatte es vor nicht sehr langer Zeit gesehen. Die Erinnerung kam zurück und riß Irene vollends aus ihrem fiebrigem Schlaf, aber es war keine gute Erinnerung.

Sie sah die große Stadt New York vor ihrem geistigen Auge, dunkle Gassen mit leichtbekleideten Frauen, die obszöne Worte sagten. Dann einen dunklen, schmutzigen Raum in einem Keller, ihr Gefängnis. Und den Mann, der ihr das Kind wegnahm.

Den Mann, der jetzt an ihrem Bett saß - Max Quidor!

Als sie sich dessen bewußt wurde, schloß sie die Augen wieder. Das konnte nur ein Traum sein, ein Alptraum. Quidor war in New York, und sie war an Bord der ONTARIO, die im Hafen von Louisville lag.

Aber dann bemerkte sie plötzlich das leichte Schlingern, das sie während der Fahrt auf dem Ohio verspürt hatte. Das konnte nur bedeuten, daß die ONTARIO schon wieder unterwegs war.

Sie öffnete die Augen wieder, und Max Quidor war noch immer da.

»Du kannst es ruhig glauben, Irene, ich bin es wirklich«, sagte er mit spöttischem Triumph. »Aber ich kann deine Verwunderung verstehen. Ich hätte selbst nicht geglaubt, daß wir uns so schnell wiedersehen.« Er lachte trocken. »Man könnte fast meinen, das Schicksal hätte uns zusammengeführt, was? Uns zwei und deinen kleinen Sohn.«

Er fuhr mit der Hand über den Kopf des schlafenden Kindes, das zwischen Irene und der Kabinenwand in der Koje lag.

Irene dachte daran, daß er ihr Jamie schon einmal weggenommen hatte, und riß den Jungen an sich. »Lassen Sie ihn in Ruhe, Quidor!«

Der Mann versetzte ihr eine schallende, schmerzhafte Ohrfeige. »Reiß dich zusammen! Vergiß nicht, du bist in meiner Gewalt!«

Irene hielt ihren Sohn weiterhin fest an sich gedrückt. »Wo sind...« Irgend etwas hinderte sie am Weitersprechen.

»Deine Freunde, Adler und Bauer? Nicht an Bord und können dir also auch nicht helfen. Sie sitzen in Louisville wegen Mordes an zwei Matrosen hinter Gittern, hat man mir erzählt. Von mir aus sollen sie hängen!«

Er stand auf. »Ich muß mich um das Schiff kümmern. Aber ich komme wieder, um mir das zu holen, was du mir in New York verwehrt hast!«

Er verließ die Kabine, und Irene verwünschte plötzlich ihren Entschluß, nach Amerika auszuwandern. Aber als sie wieder klarer denken konnte, wurde ihr bewußt, daß sie es in Deutschland nicht besser gehabt hatte. Eine Frau ohne Mann schien überall herumgestoßen zu werden von Männern, die ihre eigenen Interessen über alles andere stellten. Ob sie nun Wilhelm Dilger oder Max Quidor hießen.

Vivian Marquand trat mit besorgtem Gesicht ein. »Hat Quidor Ihnen etwas getan?«

»Nein, jedenfalls nichts Schlimmes. Wie kommt er an Bord?«

Vivian erklärte es ihr.

»Sie sind eine Spionin?« fragte Irene ungläubig. »Warum tun Sie das?«

»Weil ich auch einmal einen Sohn hatte«, antwortete Vivian und erzählte ihr von George.

*

Als er Irene Sommers Kabine verließ, wollte Max Quidor auf die Brücke steigen, um sich zu vergewissern, daß bei Dan Massey alles in Ordnung war.

Massey war der erfahrenste Flußschiffer, den Quidor in der kurzen Zeit, die ihm zur Verfügung gestanden hatte, in Louisville auftreiben konnte. Er war selbst Kapitän eines kleinen Dampfers gewesen, bis das Schiff durch eine Kesselexplosion auseinanderbarst und im Ohio versank. Achtzehn Menschen verloren bei dieser Katastrophe ihr Leben. Massey konnte keine Schuld an dem Unfall nachgewiesen werden, aber niemand vertraute ihm mehr ein Schiff an. Er wurde ein Säufer, der sich in den Hafenkneipen durch Seemannsgarn Rum und Whiskey schnorrte.

Massey hatte Quidor versprochen, trocken zu bleiben, wenn dieser ihm eine Chance gäbe. Quidor hatte sich darauf verlassen müssen, weil er in der Eile keinen besseren Mann fand. Nun stand Massey oben im Ruderhaus und führte die ONTARIO. Aber Quidor sah von Zeit zu Zeit nach ihm, weil er ihm nicht traute. Er traute niemandem außer sich selbst, sonst wäre er mit seinen dunklen Geschäften nicht so reich geworden.

Er hatte gerade seinen Fuß auf die unterste Treppenstufe des Brückenaufgangs gesetzt, als eine Frauenstimme hinter ihm seinen Vornamen rief. Das konnte nur Jeanette sein. Langsam drehte er sich um und sah die Französin neben dem Backbordschornstein stehen, hinter dem sie sich bis jetzt verborgen gehalten hatte.

Trotz der derben Hose und des weiten Hemdes, die sie für dieses Abenteuer angezogen hatte, war sie eine schöne Frau. Aber er kannte ihre Schönheit schon lange, und sie langweilte ihn immer mehr. Quidor brauchte stets Abwechslung, neue Anregungen. Deshalb reizte ihn Irene Sommer so sehr.

Jeanette kam langsam auf ihn zu. »Max, was hast du in der Kabine der Deutschen gesucht?«

»Das geht dich nichts an«, sagte er kalt.

»Doch, es geht mich etwas an«, widersprach Jeanette und blieb am Treppenabsatz vor Quidor stehen. »Es geht mich etwas an, weil ich dich liebe und du mir gehörst!«