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Die beiden Männer verschwanden durch einen schmalen Gang auf einem Hinterhof, der an die Bowery grenzte. Hier warteten bereits Henry und Jeanette mit vier gesattelten Pferden. Von der Christie Street, an der die Front des Golden Atlantic lag, klangen Hufgetrappel, das Rattern von Wagenrädern und laut gerufene Kommandos eines Kutschers herüber.

»Das ist die Polizei«, stieß die Französin hervor. »Wir müssen uns beeilen, Max.«

Er nickte und sah sie prüfend an. Sie trug noch immer ihr weinrotes Kleid, aber ein Kutschermantel lag um ihre Schultern, und ein zerbeulter Hut verdeckte ihre Haarpracht.

»Bist du sicher, daß du mitkommen willst?« fragte er. »Es wird ein harter Ritt.«

Jeanette erwiderte seinen Blick. »Oui, ich bin sicher. Weil ich dich liebe, Max.«

Er schwang sich auf sein Pferd. »Dann los!«

Während der Polizeiwagen vor dem Haupteingang des Golden Atlantic hielt und die Insassen auf die Straße sprangen, um das Gebäude zu umstellen, sprengten die vier Reiter durch einen schmalen Weg hinaus auf die Bowery und entkamen so in letzter Minute ihren Häschern.

Verbissen trieb Max Quidor sein Pferd durch das nächtliche New York. Die großen Häuser wurden zu Schatten, die an ihm vorbeiflogen. Er konnte es nicht verhindern. Immer wieder mußte er an diesen deutschen Zimmermann, Jacob Adler, denken. Mit ihm hatte sein Unglück angefangen. Ohne ihn hätte Quidor nicht aus New York fliehen müssen wie ein gemeiner Strauchdieb. Irgendwann würde er ihn wiedertreffen, und dann sollte Adler für all dies büßen.

*

Pittsburgh, Pennsylvania, drei Tage später.

Das schwere Stahlroß mit dem vorgeschnallten Kuhfänger rollte fauchend, ächzend, rauchausstoßend und funkenstiebend in die große Stadt am oberen Ohio ein und umhüllte die auf dem Bahnsteig wartenden Menschen mit einem Mantel aus Lärm, Rauch und Gestank. Als die Lokomotive mit einem letzten, an ein vorzeitliches Ungeheuer gemahnenden Schnaufen endlich zum Stillstand gekommen war, verringerten die Menschen den bisher respektvollen Abstand zu dem Lindwurm aus Eisen und Holz. Sie drängten sich an die Plattformen der Wagen, auf denen bald ebenfalls Menschen erschienen, erst das Zugpersonal und dann die Fahrgäste. Die meisten der letzteren wurden bereits erwartet und lauthals begrüßt.

Nicht so die beiden Männer und die Frau, die aus einem der vorderen Wagen stiegen und von keinem der Wartenden beachtet wurden. An ihnen war auch nichts Auffälliges. Sie waren bloß müde, abgekämpfte Passagiere, hinter denen die Strapazen einer anderthalbwöchigen Reise per Wagen, Kanalboot und Eisenbahn lagen.

Am wenigsten müde wirkte der hochgewachsene, breitschultrige Mann mit dem sandfarbenen Haar und dem gutgeschnittenen, offenen Gesicht, der einen goldenen Ring im rechten Ohr trug, als Zeichen seiner Angehörigkeit zur Zimmermannszunft. Jacob Adler schleppte zusammen mit seinem stämmigen, einen halben Kopf kleineren Freund Martin Bauer das gesamte Gepäck der kleinen Gruppe.

Aber auch die schöne junge Frau in ihrer Mitte war nicht ohne Last. Auf ihren Armen trug sie, zu einem dicken Bündel verpackt, den kleinen, erst anderthalb Monate alten Jamie. Sein voller Name lautete Jacob-Martin nach den beiden Begleitern seiner Mutter, die auch seine Paten waren. Ein Handelsreisender hatte während der Zugfahrt zum oberen Delaware die Abkürzung gebraucht, und sie hatte sich schnell eingebürgert. Sie war amerikanisch, und die drei Freunde bemühten sich, auch untereinander in der Sprache der Einheimischen zu verkehren. Sonst bestand die Gefahr, daß sie ihr mühsam auf dem Auswandererschiff erlerntes Englisch rasch wieder vergaßen. Natürlich blieb es nicht aus, daß sie immer wieder, besonders in schwierigen Fällen, in die deutsche Muttersprache zurückfielen.

Seit der Nacht, als sie mit dem gewaltsam aus James Duncans Haus befreiten Jamie die Stadt New York verlassen hatten, waren sie nicht recht zur Ruhe gekommen. Jetzt suchten sie ein Schiff, um auf dem Ohio, der ab Pittsburgh schiffbar war, zum Mississippi und auf ihm und dem Missouri hinauf weiter nach Westen zu gelangen. Sie hofften, während der langen Flußfahrt ein wenig ausruhen zu können.

Aber da irrten sie sich gründlich. Vielleicht hätten sie ganz auf den Wasserweg verzichtet, hätten sie geahnt, was ihnen auf dem Ohio alles bevorstand.

Eine Kolonne von Maultiergespannen, die große, kastenförmige Frachtwagen zogen, angeführt von einem berittenen Offizier, kam aufs Bahnhofsgelände und hielt vor dem hinteren Teil des Zuges an. Blauuniformierte Soldaten sprangen aus den Wagen und begannen damit, die Güterwaggons zu entladen, die Nachschub nach Pittsburgh transportiert hatten. Ein Teil davon war für die hiesige Garnison bestimmt, aber der größte Teil würde auf dem Ohio flußabwärts zu den Vicksburg belagernden Unionstruppen gebracht werden.

Seit zwei Jahren befand sich Nordamerika im Sezessionskrieg, den man auch Bürgerkrieg nannte, weil hier Nachbar gegen Nachbar, Bruder gegen Bruder kämpfte. Angefangen hatte alles mit der Wahl Abraham Lincolns zum Präsidenten der Vereinigten Staaten. Im Süden, wo sich die größtenteils von der Landwirtschaft lebende weiße Bevölkerung auf die Negersklaven angewiesen glaubte, galt Lincoln als fanatischer Gegner der Sklaverei. Um einer Abschaffung der Sklavenhaltung durch den neuen Präsidenten zuvorzukommen, sagte sich im Dezember 1860 der Staat South Carolina von den USA (United States of America) los. Im darauffolgenden Jahr folgten zehn weitere Staaten diesem Beispiel und schlossen sich zu den CSA (Confederate States of America) mit der Hauptstadt Richmond in Virginia zusammen. Präsident des neuen Staatenbundes wurde der ehemalige US-Kriegsminister Jefferson Davies.

Als die Truppen der Konföderierten im April 1861 das an der Küste des Südstaates South Carolina gelegene, aber von Unionstruppen besetzte Fort Sumter beschossen, brach damit der Krieg los, der nicht nur wegen der Frage der Sklaverei, sondern von der Seite des Nordens auch zur Wiederherstellung der USA geführt wurde.

Trotz der starken industriellen und zahlenmäßigen Unterlegenheit der Konföderation hatten die Rebellen, wie die Südstaatler von ihren Feinden genannt wurden, aufgrund ihres größeren Wagemuts in den ersten beiden Kriegsjahren beachtliche Erfolge errungen. Doch allmählich schien sich das Blatt zu wenden. Der Norden war tief in das Gebiet der Südstaaten eingedrungen und hatte fast den gesamten Mississippi unter seine Kontrolle gebracht. Damit drohten die Staaten Arkansas, Louisiana und Texas von den restlichen konföderierten Staaten abgeschnitten zu werden.

Nur die dreißigtausend Soldaten, die unter CS-General Pemberton in der Flußfestung Vicksburg ausharrten, standen einer gänzlichen Spaltung der Südstaaten noch entgegen. Aber US-General Grant hatte Pembertons Armee am 18. Mai eingeschlossen und belagerte Vicksburg. Während die Nordstaatler aus dem umliegenden Land und über den Mississippi ständig Nachschub erhielten, wurden die Konföderierten allmählich ausgehungert. Nur tröpfchenweise gelangten auf Schleichwegen Verpflegung und Munition in die Stadt. Die meisten der Geheimtransporte wurden von den Unions-Truppen abgefangen.

Als die drei Deutschen die Straßen von Pittsburgh durchquerten, war der Krieg so gegenwärtig wie noch nie, seit sie vor zwei Wochen in New York amerikanischen Boden betreten hatten. Auf Schritt und Tritt begegneten ihnen Soldaten im blauen Waffenrock des Nordens. Über mehreren Gebäuden, die militärische Dienststellen beherbergten, wehte der Sternenbanner. Das war nicht weiter verwunderlich, war die Stadt doch ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt, an dem jeden Tag Unmengen von Nachschubgütern eingeschifft wurden.

Und die gab es hier reichlich, nicht nur, weil der Flußverkehr in Pittsburgh seinen Anfang nahm. Aufgrund der starken Kohlevorkommen in der Gegend hatte sich im großen Stil die Eisenindustrie angesiedelt, deren Schornsteine die Stadt wie eine Mauer umgaben und von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gelbschwarze Rauchsäulen in den Himmel entließen.