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Der Frachtagent hatte den Haustürschlüssel schon in der Hand, als ihm ein Lichtschimmer auffiel. In den hinteren Büroräumen hielt sich jemand auf. Eigentlich kam dafür nur der junge Ross Bowman in Frage, der durch den Krieg seine Familie verloren hatte und als Flüchtling nach Pittsburgh gekommen war. Seit ein paar Wochen arbeitete er als Angestellter in der Agentur und machte sich recht gut. Aber Bowman hatte sich den Nachmittag freigenommen, weil er in dem kleinen Ort Sinew ein paar Meilen flußabwärts ein Mädchen kennengelernt hatte, dessen Eltern er seine Aufwartung machen wollte. Da konnte er kaum schon wieder zurück sein.

Leise schloß Marquand die Tür auf und drückte sie hinter sich ebenso leise wieder ins Schloß. Blitzschnell fuhr seine Rechte unter die dunkle Jacke und zog den sechsschüssigen Colt Pocket aus dem Schulterholster. Während er auf Zehenspitzen auf den Lichtschimmer zuschlich, spannte sein Daumen den Hahn des Revolvers.

Er blieb an der angelehnten Tür stehen und lauschte, hörte aber nichts als das Rascheln von Papier und das Kratzen eines Bleistiftes.

Ganz vorsichtig vergrößerte er den Türspalt und erkannte bald, daß tatsächlich der lockenhaarige Ross Bowman hinter dem Schreibpult saß, einige Bücher durchging und sich in ein ledergebundenes Buch Notizen machte. Marquand konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wozu diese Arbeit dienen sollte.

Als es ihm dann einfiel, ließ er den Hahn vorsichtig zurückgleiten und schob den Colt ins Holster zurück, wobei er darauf achtete, daß die Waffe locker saß. Dann stieß er die Tür auf und betrat mit einem Lächeln den Raum.

»Hallo, Ross, so spät noch bei der Arbeit? Haben Ihre zukünftigen Schwiegereltern Sie etwa kurz und bündig abgefertigt?«

Vor Überraschung ließ der junge Clerk den Bleistift fallen, der ein Stück über den glatten Holzboden rollte und unter dem Schreibpult liegenblieb. Für den Bruchteil einer Sekunde huschte panischer Schrecken über Bowmans jugendlich glattes Gesicht. Dann bekam er sich wieder in die Gewalt und zwang sich ebenfalls zu einem Lächeln.

»Guten Abend, Mr. Marquand. Ja, so ähnlich lief es tatsächlich. Es war nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe.

Lorna und ich sind wohl doch nicht füreinander geschaffen. Ich dachte mir, ich könnte die Arbeit nachholen, die ich heute nachmittag liegengelassen habe.«

»Das ist sehr nett von Ihnen. Womit beschäftigen Sie sich denn gerade?«

»Oh, ich gehe Ihre alten Bücher durch, um mir einen besseren Einblick in Ihr Geschäft zu verschaffen.«

Eine gute Ausrede für deine Schnüffelei, dachte Marquand.

Laut fragte er: »Kann ich Ihnen helfen, Ross? Ist Ihnen vielleicht etwas unklar?«

Dabei trat er hinter das Pult, um einen Blick auf das ledergebundene Taschenbuch zu werfen, das Bowman gehören mußte. Es enthielt alle Abfahrtsdaten und die Namen aller Schiffe aus dem letzten halben Jahr, die Fracht im Auftrag von Marquands Agentur transportiert hatten.

»Danke, Mr. Marquand, aber ich wurstel' mich schon durch. Ich muß schließlich lernen, ohne Ihre Hilfe zurechtzukommen.«

»Da leisten Sie wohl grundlegende Arbeit, indem Sie die Schiffsnamen auswendig lernen«, meinte der Frachtagent und zeigte auf das aufgeschlagene Taschenbuch mit der Namensliste.

»Das ist nur eine Gedächtnisstütze.«

»Für wen?« fragte Marquand mit einem lauernden Tonfall und trat zwei Schritte zurück. »Für Sie oder für Mr. Allan Pinkerton?«

Bei der Erwähnung dieses Namens fiel die jugendliche Unbekümmertheit von Bowmans Gesicht ab. Es besaß noch immer die Glattheit und Straffheit eines Jünglings, aber die Augen blickten jetzt kühl und abwägend wie die eines erfahrenen Mannes, der sich bemühte, eine gefährliche Situation richtig einzuschätzen. Und genau das tat Ross Bowman in diesen Sekunden.

»Wie sind Sie dahintergekommen?« fragte er, als er sich entschieden hatte, seine Tarnung aufzugeben.

»Dann sind Sie also tatsächlich ein Pinkerton-Mann. Ich wußte es nicht, habe es mir nur gedacht.« Marquand wies mit der Linken auf das Taschenbuch. »Daß Sie spionieren, ist offensichtlich. Und der Spionagedienst des Nordens wird von Pinkerton geleitet.«

»Sie haben mich erwischt«, erwiderte Bowman mit einem unechten Lächeln. »Allerdings ich Sie auch. Wenn ich die Sache richtig überblicke, hatten fast alle Schiffe, die wir auf dem Ohio und dem unteren Mississippi beim Schmuggel von Waren durch unsere Linien erwischt haben, ihre Fracht bei Ihnen bezogen. Wir hatten Sie schon lange im Verdacht, und ich sollte diesen Verdacht bestätigen, was mir gelungen ist. Ich würde sagen, es steht unentschieden.«

»Nicht ganz«, sagte der Frachtagent und schlug mit der Linken seinen Jackenaufschlag zur Seite, so daß sein Schulterholster mit dem Colt Pocket sichtbar wurde. »Ich bin bewaffnet, im Gegensatz zu Ihnen. Damit habe ich das Spiel gewonnen. Mr. Pinkerton wird niemals erfahren, was Sie über mich herausgefunden haben.«

Bowmans Gesicht spiegelte die bittere Erkenntnis wider, daß Marquand recht hatte. »Beantworten Sie mir eine Frage, Marquand?«

»Welche?«

»Weshalb setzen Sie sich so für den Süden ein?«

»Weil ich dort geboren bin. Meine Familie besaß eine große Plantage im Norden von Tennessee. Als die Yankee-Armee anrückte, rebellierten unsere Sklaven und steckten das Anwesen in Brand. Meine ganze Familie ist dabei ums Leben gekommen, auch mein kleiner Sohn. Nur meine Frau und ich haben überlebt.«

Während er sprach, verhärteten sich Marquands Züge, und sein Blick schien in weite Ferne zu starren. Aber nur für Sekunden, dann befand er sich wieder ganz in der Gegenwart.

»Und jetzt schulden Sie mir eine Antwort, Ross. Wo waren Sie heute nachmittag?«

»Weg.«

»Bei einem Treffen mit einem Verbindungsmann?«

»Wieso fragen Sie, wenn Sie alles schon wissen? Sagen Sie mir lieber, wie es jetzt weitergehen soll!«

»Ich muß Sie leider ausschalten«, sagte Marquand mit ehrlich klingendem Bedauern. »Ich schätze tatkräftige Männer, aber Sie stehen auf der falschen Seite.«

»Ja, das ist wirklich Pech«, meinte der junge Pinkerton-Mann mit einem Seufzer.

Dabei machte er eine Bewegung, die aussah wie ein Schulterzucken. Aber etwas rutschte dabei in seine rechte Hand, etwas Kleines, Metallisches. Ein Derringer.

Die Waffe mußte in einem Unterarmfederholster gesteckt haben, erkannte Marquand. Gleichzeitig riß er seinen Colt aus dem Schulterholster.

Beide Waffen gingen gleichzeitig los und erfüllten das Büro mit dem rollenden Donner sich zu einer einzigen Detonation verschmelzender Schüsse. Pulverrauch zog durch die Luft.

Noch immer standen sich beide Männer gegenüber, die Waffen in der Hand. Plötzlich kippte Bowman nach vorn und stürzte polternd zu Boden. Keine zwei Sekunden später ließ Marquand den Colt Pocket los und fiel auf den Pinkerton-Mann.

*

Nach dem Kampf setzten sich Jacob und Martin wieder an den Ecktisch, der ihnen von niemandem mehr streitig gemacht wurde. Aber die neugierigen Blicke der übrigen Gäste ruhten auf ihnen. Bart Rumpole und seine Gefährten waren nach der erlittenen Schmach nicht ins Restaurant zurückgekehrt.

Die beiden Freunde bestellten zunächst das Essen für Irene und dann für sich selbst Schweinekoteletts mit Bohnen und Kartoffeln, dazu für jeden ein großes Bier. Schulze selbst brachte ihnen das Essen und setzte sich zu ihnen an den Tisch.

»Ich hoffe, Sie sind uns nicht böse, Herr Schulze«, sagte Jacob auf deutsch.

»Böse?« Er sah Jacob erstaunt an. »Worüber denn?«

»Darüber, daß wir Ihre Gäste aufgescheucht und ein paar sogar vertrieben haben.«

»Sie sprechen von den Matrosen?«

»Ja.«

»Da muß ich mich höchstens bei Ihnen bedanken. Raufbolde sind keine willkommenen Gäste. Vor zwei Monaten haben die beiden Rumpoles und ihre Kumpane bei einer Schlägerei meine halbe Einrichtung zertrümmert.«