»Warum nicht gleich so?«, knurrte Bonneterre und machte sich an dem Seil zu schaffen, mit dem sie Nathan an den Deckenbalken der Scheune gehängt hatten. Cheever und Huggins hielten jetzt die Beine des Negers, damit der Zug nachließ und der Knoten sich lösen konnte. Dann ging alles sehr schnell. Nathan schob seine Zunge, so weit er konnte, durch zwei kräftige Zahnreihen, und als ihn nur noch die beiden jungen Männer auf dem Sägebock hielten, ließ er sich plötzlich nach vorn fallen, landete auf seinem Gesicht und biss sich die Zunge bis auf ein kleines Stückchen am Rand vollständig ab.
Vor Schmerz verlor er das Bewusstsein, vielleicht hatte er sich auch den Schädel gebrochen. Es kam nicht mehr darauf an.
19.
»Zeigen Sie mir den Brief«, sagte John Gowers, und der unglückliche Reeder Robert Maguire, der schwer atmend vor ihm saß, händigte ihm das Schreiben aus. Wir haben Ihre Kinder, stand in kleinen, zitternden Buchstaben auf dem fleckigen Papier, das zwei Tage zuvor unter der Tür des Reeders durchgeschoben worden war. Verhalten Sie sich ruhig, und warten Sie unsere Forderungen ab! »Sind seither irgendwelche Forderungen gestellt worden?«, fragte Gowers.
Maguire schüttelte den Kopf. »Nein, aber heute Morgen lag das auf unserer Schwelle.« Er reichte Gowers ein etwa kohlkopfgroßes, aber erstaunlich leichtes Bündel. Der Amerikaner schaute hinein und zog dann eine Handvoll goldblonder Locken aus dem schäbigen, schmutzigen Tuch.
»Ich nehme an …«
»Das Haar meiner Tochter«, sagte Maguire mit brüchiger Stimme, und Tränen stiegen ihm in die Augen. »Mairie! Wer tut einem jungen Mädchen so etwas an?!« Angst und Wut mischten sich in seinem Gesicht, und es schien keineswegs sicher, welches dieser beiden Gefühle letztlich die Oberhand gewinnen würde.
»Wie alt ist Ihre Tochter?«, fragte Gowers.
»Vierzehn. Noch ein Kind, Mr. Gowers, ein Kind!«
»Und Ihr Junge?«
»Jonathan wird im nächsten Monat elf.« Ein Hauch Verachtung schwang jetzt in der Stimme des Reeders mit. »Was sind das für Leute, die auf Kinder losgehen?!«
»Entführer sind immer Feiglinge.« John Gowers gab nun endlich die Antwort, die sein Klient offensichtlich hören wollte, fügte aber nach wenigen Sekunden hinzu: »Das macht sie so gefährlich.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Maguire, in der Bestätigung seiner Ansichten gleich wieder erschüttert.
»Nun, Räuber und Diebe«, antwortete Gowers, »manchmal sogar Mörder, sind in einem Punkt, ich will nicht sagen: ehrlich, aber gewissermaßen fair. Sie gehen ein Risiko ein, um ihr Ziel zu erreichen. Sie wagen etwas.«
»Ich kann Ihnen nicht folgen«, sagte Maguire ein wenig ungehalten.
»Ein Mann, der Ihnen die Brieftasche wegnehmen will, muss damit rechnen, dass Sie sich wehren, Sir.«
»Zum Teufel, und damit liegt er verdammt richtig!«, entgegnete der kräftige, etwa fünfzigjährige Reeder so spontan, als wünsche er sich in diesem Moment nichts sehnlicher als ein Dutzend solcher Männer.
»Wenn er es trotzdem versucht, zeigt er damit, dass es ihm wichtiger ist, Ihre Brieftasche zu bekommen, als seine heile Haut zu behalten. Bei Entführern ist es umgekehrt. Sie tun«, Gowers machte eine Pause, die sowohl Anteilnahme als auch professionelle Besorgnis ausdrücken sollte, »alles, um mit heiler Haut davonzukommen.«
Robert Maguire verstand den Amerikaner jetzt und schluckte schwer an dieser Tatsache. »Gut, dass meine Frau nicht mitgekommen ist.«
Verschiedenes an dieser Entführung war merkwürdig. Zum einen war das die Tatsache, dass gleich zwei Kinder verschwunden waren, denn das sprach für eine größere Gruppe von Tätern. Vielleicht sollte aber ursprünglich nur eines entführt werden; vielleicht war der kleine Junge seiner Schwester, vielleicht die Schwester dem Bruder zu Hilfe geeilt – und das war schlecht, denn es konnte bedeuten, dass der Junge, das Mädchen sich zu heftig gewehrt hatten und nun tot waren. Gowers verbannte diesen Gedanken aus seinen Überlegungen und hoffte stattdessen auf die Möglichkeit, dass die Entführer einfach die Gunst der Gelegenheit wahrgenommen und gefunden hatten, für zwei Kinder mehr verlangen zu können als für eins.
Aber, das war der zweite merkwürdige Umstand, sie verlangten nichts, seit zwei Tagen nicht. Bei den Entführungen, mit denen Gowers bislang zu tun gehabt hatte, lagen zwischen der Tat und den Forderungen meist nur wenige Stunden; immerhin kann man von einem Entführer ja zumindest erwarten, dass er nicht nur sein Opfer genau aussucht, sondern sich auch vorher überlegt, was er eigentlich will. Für ein zweitägiges Schweigen gab es auf den ersten Blick keine andere Erklärung, als dass die Pläne der Entführer gestört worden waren, und auch das konnte bedeuten, dass die Kinder nicht mehr lebten.
Dann die seltsame und grausame Idee, dem Mädchen das Haar abzuschneiden. Was sollte das? Und warum war auch mit dieser zweiten »Botschaft« keine Forderung verbunden? Wollte man zeigen, dass die Kleine noch lebte? Oder nur ihre unglücklichen Eltern quälen und einschüchtern? Gowers betastete die langen blonden Locken, die der verzweifelte Vater ihm dagelassen hatte, und sah sie sich sehr genau an. Er fand keine Haarwurzeln, nicht ein Haar war ausgerissen worden, und die sauberen Schnitte sprachen gegen ein Messer und für eine Schere, die die gemeine Arbeit verrichtet hatte. Das aber erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau in den Fall verwickelt war, beinahe bis zur Gewissheit, denn Männer, zumindest Verbrecher, besaßen in dieser Zeit und Gegend gemeinhin keine Scheren und auch nicht die Geduld und das Geschick, sie zu benutzen.
Noch einmal wandte sich Gowers der Frage zu, was diese Botschaft zu bedeuten hatte. Ich habe Ihre Tochter? Das wusste Maguire schon. Ihre Tochter lebt? Man konnte auch einer Leiche das Haar abschneiden. Um ein »Lebenszeichen« zu geben, war es außerdem erheblich einfacher, ein Kleidungsstück des Entführten zu schicken. Nein, unter diesen oberflächlichen Bedeutungen sollte das abgeschnittene Haar von Mairie Maguire vor allem eins signalisieren: Ich kann mit Ihrer Tochter tun, was ich will. Und neben der Drohung, der Einschüchterung, die darin unzweifelhaft steckte, sprach das für eine erhebliche Eitelkeit – der Täterin.
20.
Gowers war herzlich ungeübt darin, sich mit Kindern zu unterhalten. Er befragte sie deshalb so, wie er auch Erwachsene befragt hätte, und versuchte lediglich, besonders langsam und deutlich zu sprechen, als ob die Kinder Schwachsinnige wären, zu denen man erst einmal durchdringen müsse. Sein Unvermögen war zweifellos darin begründet, dass es in seinem eigenen Leben eine Kindheit praktisch nicht gegeben hatte beziehungsweise dass die Erinnerung an Zärtlichkeit, Geborgenheit und Vertrauen ihm nachhaltig abhandengekommen war.
Ein Kind war in seinen Augen einfach ein Erwachsener, der noch nicht genügend gelernt, gelesen, erlebt hatte; ein unfertiger Mensch, den man am besten sich selbst überließ, um vielleicht irgendwann nachzuschauen, was aus ihm geworden war. Gowers konnte nicht verstehen, warum sich so viele Menschen, Schriftsteller zumal, in diesen erbärmlichen Zustand zurückwünschten. Die Befragung einiger Schulkameraden von Mairie und Jonathan bestätigte ihn in dieser Ansicht: Die Kinder verhielten sich wie Idioten. Ihre Angaben widersprachen einander ganz offen und machten sie unbrauchbar. Einigkeit herrschte lediglich darin, dass Jonathan in der Schule erzählt hatte, ein schwarzer Riese umschleiche seit einigen Nächten das Haus; aber ob der einen Schlapphut oder eine Kapuze trug, war schon wieder umstritten.
Gowers gab es auf, seine Ermittlungen in diese Richtung auszuweiten. Viel interessanter war, dass es auch nach vier Tagen keine Forderung gab. Nun ist eine Entführung, wie jede riskante Spekulation, mit Kosten verbunden, mit Aufwand, Personal, Logistik. Die Kinder mussten versteckt, bewacht, versorgt werden, mussten essen und ihre Notdurft verrichten. Und all das geschah nun schon seit vier Tagen, ohne dass nach einer Gegenleistung gefragt worden war, und das brachte Gowers auf den Gedanken, dass der »Mehrwert« möglicherweise kein finanzieller war.